Guo Yuhua, "Das Problem der Wanderarbeiter repräsentiert die Sorge um den ländlichen Raum aber auch die Sorge um die Nation" [i]
Übersetzt von Michaela Böhme
Anmerkungen zum Text
Guo Yuhua ist Professorin für Soziologie an der Tsinghua-Universität in Peking und eine bekannte liberale Intellektuelle Chinas. In ihrer Forschung beschäftigt sich Guo Yuhua mit der Erfahrungsgeschichte chinesischer Bäuerinnen und Bauern und den von ihnen unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas erlebten gesellschaftlichen Umwälzungen. Sie setzt sich vehement für die Rechte und Belange marginalisierter Bevölkerungsschichten wie Bauern und Wanderarbeiter ein und betreibt dazu einen eigenen Blog auf WeChat (Yuhua’s Blick auf die Gesellschaft, 于华看社会).
Als liberale Intellektuelle ist Guo Yuhua zudem eine der prominentesten Kritikerinnen der politischen Führung Chinas – eine Haltung, die spätestens seit dem Amtsantritt von Regierungs- und Parteichef Xi Jinping im Jahr 2012 mit zunehmenden beruflichen und persönlichen Risiken verbunden ist. Ihre Blogbeiträge werden regelmäßig von der Partei zensiert.
Das folgende Interview Guo Yuhuas mit der Organisation Zijin Media Think Tank wurde 2018 auf der Plattform Aisixiang veröffentlicht und wurde trotz seiner deutlichen Kritik an der chinesischen Partei bislang nicht von der staatlichen Zensur entfernt. In dem Interview nimmt Guo Yuhua die jährliche Reisewelle zum Frühlingsfest, auch chunyun genannt, in den Blick, wenn Hunderte Millionen Menschen aus den Großstädten in ihre Heimatdörfer zurückkehren, um dort das chinesische Neujahrsfest mit ihren Familien zu verbringen.
Für Guo Yuhua ist chunyun kein rein kulturelles Phänomen, sondern vielmehr Ausdruck sozio-ökonomischer Verwerfungen zwischen Stadt und Land. Um die strukturellen Ursachen für die größte jährliche Massenmigration der Welt zu verstehen, so Guo Yuhua, müsse man die problematische Situation chinesischer Arbeitsmigranten vom Land in den Blick nehmen, die in den Städten zwar als Arbeitskräfte willkommen seien, aber dort oftmals aufgrund des chinesischen Meldesystems (hukou) keine dauerhaften Aufenthaltsrechte erwerben können. Vom Urbanisierungsprozess ausgeschlossen, seien Wanderarbeiter dazu gezwungen, eine soziale Existenz zwischen Stadt und Land aufrechtzuhalten, was sich wiederum im alljährlichen Phänomen der chunyun wiederspiegele.
Im Interview stellt Guo Yuhua hierbei nicht nur die Entwicklungspolitik der Regierung in Frage, welche eine Modernisierung Chinas auf Kosten der Landbevölkerung vorantreibe, sondern richtet ihre Kritik auch an Chinas städtische Mittelschicht. Viele Städter, so ihr Argument, würden zwar die Dienstleistungen der Wanderarbeiter in Anspruch nehmen – ob als Kurierdienst, Haushaltshilfe oder mobile Street-Food-Verkäufer – diese jedoch gleichzeitig für viele Probleme der Urbanisierung wie Smog, Verkehrschaos oder öffentliche Sicherheit verantwortlich machen.
Als liberale Intellektuelle plädiert Guo insbesondere für die Stärkung der Land-, Eigentums- und Grundrechte der ländlichen Bevölkerung sowie einen gerechten Zugang zu öffentlichen Gütern und Ressourcen, um dadurch die duale Stadt/Land-Struktur zu überwinden und den Weg zu einer inklusiveren, ausgeglicheneren Entwicklung Chinas zu öffnen.
"Das Problem der Wanderarbeiter repräsentiert die Sorge um den ländlichen Raum aber auch die Sorge um die Nation"
von Guo Yuhua
Zusammenfassung: Beschreibt das Gefühl des „xiangchou“ eine nostalgische Sehnsucht nach einer ländlichen Heimat? Ist es eine Art Seelenschmerz? Nach Auffassung von Frau Professor Guo Yuhua vom Institut für Soziologie an der Tsinghua-Universität handelt es sich bei dem Gefühl des „xiangchou“ um eine sich im Individuum widerspiegelnde gesamtgesellschaftliche Problematik, also in gewissem Sinne um eine Art „nationale Sehnsucht“ (gouchou) nach einem besseren China. Nur wenn der ländlichen Bevölkerung vollumfängliche Rechte zugestanden werden, lassen sich auch die Probleme der Urbanisierung lösen und eine ausgeglichene Entwicklung zwischen Stadt und Land realisieren.
Zijin Media Think Tank (im Folgenden „Frage“): Frau Professor Guo, woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass während des Frühlingsfests Millionen Menschen keine Mühen scheuen und tausende von Kilometern und Strapazen überwinden, um in ihre Heimatorte zurückzukehren? Warum lieben die Chinesen ihre Heimat so sehr?
Guo Yuhua (im Folgenden „Antwort“): Zum Neujahrsfest mit der Familie zusammenkommen ist den Menschen sowohl ein natürliches Bedürfnis als auch ein traditionelles Ritual, da redet man nicht über „Schwierigkeiten und Strapazen“. Auch sind die Chinesen nicht die einzigen, die sich ihrer Heimat verbunden fühlen. Was jedoch als spezielles Charakteristikum der chinesischen Gesellschaft gelten darf, ist die nun schon seit über 30 Jahren stattfindende Reisewelle während des Frühlingsfests, bei der Millionen von Menschen große Mühen und weite Strecken auf sich nehmen, um zwischen Stadt und Land hin- und herzureisen. Die entsprechenden Regierungsstellen sind in dieser Zeit in höchstem Maße nervös, wenn die brechend vollen Züge und Busse die Reisewelle zum Frühlingsfest einleiten und die langen Kolonnen an Motorrädern, auf denen Wanderarbeiter der winterlichen Kälte trotzend auf dem Heimweg sind, die Herzen der Menschen bewegt. All dies, so meine ich, sind wichtige Elemente des alljährlich zum Frühlingsfest sichtbar werdenden Gefühls des „xiangchou“.
Doch diese einer Schar von Zugvögeln gleichende riesige Wanderung hat ihre wahre Ursache in der Existenz von über 270 Millionen Wanderarbeitern [1]. Natürlich manifestiert sich die Misere der Wanderarbeiter nicht nur in Form der Reisewelle zum Frühlingsfest. Die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die alte Heimat steht auch in enger Beziehung zu den in den Dörfern zurückgelassenen Kinder, Alten und Frauen und spiegelt sich im Niedergang der ländlichen Gebiete wider.
Die Arbeitsmigration vom Land in die Stadt zur Sicherung der Existenz und in Hoffnung auf ein besseres Leben ist ein unvermeidlicher Trend der ländlichen Entwicklung und Urbanisierung, jedoch werden unsere sozialen Sicherungssysteme und entsprechenden Regelungen den Anforderungen dieses wichtigen historischen Prozesses nicht gerecht. Lassen wir zunächst die Migrationsmuster der älteren Generation von Wanderarbeitern aus den 90ger Jahren außer Acht und nehmen wir die neue Generation von Wanderarbeitern als Beispiel: Der Begriff „neue Generation“ bezieht sich hierbei nicht nur auf das Alter oder bestimmte Vorstellungsmuster, sondern beschreibt die neuen Produktionsbeziehungen und Identitäten dieser Gruppe von Arbeitsmigranten sowie die Art und Weise, auf welche diese mit der Ära der „Fabrik der Welt“ verflochten sind. Diese „neue Generation“ stellt eine eigene institutionelle Kategorie dar, die sich in ihrer Beziehung zu Land, Stadt, Staat und Kapital grundlegend von der vorherigen Generation an Arbeitsmigranten unterscheidet. Sie zeichnet sich aus durch ein höheres Bildungsniveau und geringere Arbeitserfahrungen im Bereich der Landwirtschaft. Ihre Mitglieder haben sich bewusst für einen urbanen Lebensstil entschieden, sind weniger bereit, sich in ihr Schicksal zu ergeben und artikulieren ihre Interessen und Forderungen nach einem besseren Leben und einer besseren Zukunft deutlicher als ihre Vorgänger. Doch sind sie mit dem scheinbar unlösbaren Paradox konfrontiert, dass für sie weder Aussicht auf eine Integration in die Stadt noch auf eine Rückkehr aufs Land besteht.
Dieser schwer aufzulösende Widerspruch manifestiert sich im Konflikt zwischen der neuen Generation von Wanderarbeitern und dem alten System. Das „alte System“ bezieht sich auf das mit der Reform- und Öffnungspolitik eingeführte und bereits seit über 30 Jahren bestehende „Produktionssystem der Wanderarbeiter“. Einer seiner wichtigsten Aspekte ist die „Zersplitterung der Reproduktion von Arbeitskraft“, d.h. sein grundlegendes Merkmal besteht darin, den Reproduktionsprozess der Arbeitskraft von Migranten zu fragmentieren. Dies bedeutet, dass alle mit der „Erneuerung“ verbundenen Aufgaben wie die Pflege der Eltern, die Kindererziehung und damit verbundene Bildung, medizinische Vorsorge, Wohnraum, Rente und andere soziale Sicherungssysteme an den Heimatort der Wanderarbeiter auf dem Lande gebunden sind. Die Städte und Fabriken hingegen tragen lediglich die Kosten zur alltäglichen Existenzsicherung der migrantischen Arbeitskraft [2]. Dieses Merkmale des Systems sind ursächlich verantwortlich für die fortdauernde Misere der Wanderarbeiter bei dem Versuch, sich dauerhaft in die Städte zu integrieren sowie die damit verbundene Tragödie der auf dem Lande zurückgelassenen Kinder, älteren Menschen und Frauen wie auch der vielfachen Strapazen der Reisewelle zum Frühlingsfest. Kurzum, das „Heimweh“ zum Frühlingsfest ist sowohl die Natur des Menschen als auch eine direkte Folge des Wanderarbeiter-Systems.
Aus makroökonomischer Sicht lässt sich feststellen, dass auch im 40. Jahr der Reform- und Öffnungspolitik Chinas die Probleme der beiden, im Laufe der Jahre entstandenen Generationen an Wanderarbeitern nicht grundlegend gelöst wurden. Dies ist es, was sich hinter dem Gefühl der Sehnsucht nach einer ländlichen Heimat (xiangchou) verbirgt. Gleichzeitig beschreibt es aber auch die Sehnsucht nach einem besseren China (gouchu).
Frage: In Ihrem Artikel „Die „chinesischen Merkmale“ der Fabrik der Welt – Eine soziologische Vogelperspektive auf die Arbeitsbedingungen in der neuen Ära“ sprechen Sie davon, dass das Haushaltsregistrierungssystem maßgeblich dazu beigetragen hat, Bauern und Wanderarbeiter langfristig zu „Bürgern zweiter Klasse“ zu machen. Ende 2017 wurden in einigen Städten, die unter Problemen der Urbanisierung leiden wie zum Beispiel einer hohen Bevölkerungs- und Verkehrsdichte sowie unter Smog von den lokalen Behörden verschiedene Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle umgesetzt und harte Bevölkerungsobergrenzen etabliert. Die meisten Wanderarbeiter sahen sich unter diesen Umständen gezwungen, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Wozu führen Ihrer Meinung nach diese mit dem Geschmack der Säuberung behafteten Kampagnen?
Antwort: Diese Frage steht in Zusammenhang mit der vorherigen. Von den Ende 2017 stattfindenden „Säuberungskampagnen“ waren vor allem Wanderarbeiter betroffen. Diese Politik der Bevölkerungskontrolle und -säuberung ist nicht erst in den letzten Jahren aufgetaucht, sondern hat eine mehr als 50-jährige Geschichte, die uns den gesamten Prozess der Industrialisierung und Urbanisierung Chinas über begleitet hat. Das heutige Dilemma der ländlichen Gebiete und das Dilemma der Städte sind eigentlich zwei Seiten desselben Prozesses. Betrachten wir zunächst die ländlichen Gebiete. Der im chinesischen Sprachkontext gebräuchliche Begriff des „xiangchou“ bezieht sich nicht nur auf die nostalgische Sehnsucht der Menschen nach einer ländlichen Heimat, sondern beschreibt ebenfalls die Sorge über die Notlage der Bauern und den Niedergang der ländlichen Regionen. Wenn wir heutzutage von den ländlichen Gebieten sprechen, assoziieren viele Städter ihre Alltagsprobleme mit der Migration der Landbevölkerung in die Städte. Die Probleme des ländlichen Raums werden immer deutlicher sichtbar und scheinen tatsächlich mit dem Urbanisierungsprozesses gemeinsam aufzutreten. Wenn wir jedoch die Probleme des ländlichen Raums aus langfristiger und struktureller Perspektive heraus analysieren, lässt sich doch Folgendes nicht verkennen: Die ländliche Problematik umfasst heutzutage eine ständig steigende Selbstmordrate unter alten Menschen, eine gering ausgeprägte geistige Leistungsfähigkeit bei Kindern, eine übermäßige Belastung der Frauen, ungeordnete Familiensituationen usw. Kann man wirklich sagen, dass diese Probleme lediglich durch die Arbeitsmigration jüngerer Menschen vom Lande verursacht werden, die in den Städten nach Arbeit suchen?
Verglichen mit dem Urbanisierungsprozess in anderen Ländern, ist China mit einer Situation konfrontiert, in der der ländliche Raum im Niedergang begriffen ist, es jedoch noch eine große ländliche Bevölkerung gibt. Das Problem der Landbevölkerung ist das schwerste und schwerwiegendste Problem des sozialen Transformationsprozesses in China.
Es wird oft gesagt, dass Chinas Probleme die Probleme der Landbevölkerung seien, sprich Landwirte, Landwirtschaft und ländlicher Raum sind die größten und schwierigsten Probleme im sozialen Wandel Chinas. Es wird ebenfalls oft gesagt, dass die Probleme der Landbevölkerung die Probleme Chinas seien. Dies ist keine redundante Aussage sondern weist darauf hin, dass die sogenannte „sannong“-Thematik [der Dreiklang aus Landwirt, Landwirtschaft und ländlichem Raum] nicht allein im Bereich der Landwirtschaft und des ländlichen Raums gelöst werden kann. Das Problem der Landbevölkerung ist ein übergreifendes Problem, das aus der gesellschaftlichen Gesamtstruktur und aus dem Gesamtsystem heraus betrachtet und angegangen werden muss.
Betrachtet man die strukturelle Position der Bauern in China, kann man sagen, dass diese sich historisch gesehen ständig in einem Zustand der Ausbeutung befanden. Dies ging zweitweise sogar bis zu einer die Lebensgrundlage der Bauern selbst gefährdenden Form der Ausbeutung. Chinas Bauern zahlen seit langer Zeit den größten Preis für den sozialen Wandel, kommen aber am wenigsten in den Genuss des sozialen Fortschrittes. Ihre Behandlung als „Bürger zweiter Klasse“ ist kein Geheimnis. Der ländliche Raum war schon immer ein Objekt der Extraktion – Extraktion von Arbeitskraft, landwirtschaftlichen Produkten, Steuern, Abgaben, natürlichen Ressourcen (Land). Der ländliche Raum ist wie ein Stück Ackerland, das ohne Investition in seine Produktivität und ohne es brach liegen zu lassen ständig bebaut, ausgebeutet und beansprucht wird und dadurch immer karger und unfruchtbarer wird. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass der Niedergang der ländlichen Gebiete nicht auf die den Marktreformen folgende Mobilität von Arbeitskräften zurückzuführen ist. Die Samen, die die Landbevölkerung zu einer sozialen Randgruppe gemacht haben, wurde bereits vor langer Zeit in die Erde eingebracht: das Verschwinden der traditionellen Lebensart, der Zerfall der Großfamilie, das Fehlen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die damit verbundene Unfähigkeit, den Machtdruck zu entschärfen und ihm zu widerstehen – die Grundlage hierfür ist bereits vor einem halben Jahrhundert gelegt worden.
Wenn man nun die Stadt betrachtet, lässt sich ein Zusammenhang zwischen den Problemen der Urbanisierung und denen des ländlichen Raums erkennen. Das Dilemma der Wanderarbeiter steht im Zusammenhang mit den Problemen der Urbanisierung und ist institutioneller Natur. Dies zwingt uns, über folgende Frage nachzudenken: Was bedeutet Urbanisierung im eigentlichen Sinne des Wortes? Um wessen Urbanisierung geht es hier schlussendlich? Was ist die Natur der Urbanisierung? Wie lässt sich die von der Regierung gewünschte Integration von Stadt und Land verwirklichen? Bei einer Form der Urbanisierung, bei der nur arbeitende Hände aber keine wirklichen Menschen, bei der nur ihre Arbeitskraft nicht aber die Landbevölkerung selbst erwünscht sind, handelt es sich ganz offensichtlich nicht um eine echte Form der Urbanisierung und Modernisierung. Wenn Menschen vom Lande, die zum Arbeiten und Leben in die Städte kommen, sich nicht wirklich in die Stadt integrieren können, Bürger der Gemeinschaft werden und die gleichen Rechte wie die Stadtbevölkerung genießen können, wie kann da echte Urbanisierung stattfinden? Wie kann es hier ein normales Stadtleben geben? Stellen Sie sich vor, dass eine Wanderbevölkerung, die der Zahl der Stadtbevölkerung entspricht oder diese sogar überschreitet, in der Stadt kein stabiles Leben führen und keine stabile Arbeit finden kann, kein normales Familienleben führen kann, keine Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Altenpflege, Kindererziehung erhalten kann, der einige Berufsfelder nicht offen stehen, die zum Neujahrswechsel zwischen Stadt und Land hin- und herreisen muss. Wie soll so ein normales Stadtleben und eine Stadtentwicklung möglich sein? Wie kann das Leben der Stadtbewohner durch diese „Faktoren der Instabilität“ nicht beeinflusst werden?
In den Megastädten wie Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen ist die Situation etwas anders gelagert. Aufgrund der Bevölkerungskonzentration und der einem Pfannkuchen gleichkommenden Expansion der Städte, sorgen sich viele Menschen über schwerwiegende „urbane Krankheiten“. Die Symptome dieser sogenannten „urbanen Krankheiten“ manifestieren sich für gewöhnlich in einer hohen Bevölkerung, Staus auf den Straßen und Luftverschmutzung sowie in der Sorge um die öffentliche Sicherheit, den Brandschutz usw. Aber wenn wir genauer darüber nachdenken, sind tatsächlich die Wanderarbeiter Ursache dieser Probleme? Aus globaler Sicht betrachtet sind Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen zwar recht bevölkerungsreich aber immer noch kleiner als viele andere Großstädte [4]. Außerdem ist die Bevölkerung nicht unbedingt Hauptursache für die sogenannten urbanen Krankheiten. Schauen wir zum Beispiel auf das Verkehrsproblem und nehmen wir Peking als Beispiel. Viele Wanderarbeiter arbeiten und leben am Rande der Städte an der Stadt-Land-Grenze bzw. in den sogenannten „urbanen Dörfern“. Zur Fortbewegung verwenden sie häufig öffentliche Verkehrsmittel wie die U-Bahn oder den Bus. Private PKWs spielen in ihrem Leben keine Rolle, ganz zu schweigen von Dienstwagen. Wanderarbeiter können daher nicht als die Hauptverursacher von Verkehrsstaus gelten. Luftqualität, Smog und dergleichen Probleme werden natürlich ebenfalls nicht durch das zusätzliche Atmen dieser Menschen verursacht. Themen wie die öffentliche Sicherheit oder der Brandschutz haben ebenfalls nichts mit der Bevölkerung zu tun, sondern sind Aufgabe von Management und Stadtverwaltung.
Die derzeitige Art und Weise, in der die Wanderbevölkerung regiert wird folgt einem kampagnenhaften Regierungsstil, und das Denken dahinter ist ein planwirtschaftliches Denken. Wie wir alle wissen, ist die Existenz einer Stadt ähnlich komplex wie ein natürliches Ökosystem. Die Stadtökologie ist von Natur aus vielfältig, interaktiv und koexistent. In den Städten leben Menschen verschiedener sozialer Klassen. Ihre wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten sind aufeinander abgestimmt und ergänzen einander und formen so die Bindeglieder der Stadtökologie. Niemand kann auf sich allein gestellt in der Stadt leben. Egal welcher sozialen Klasse man angehört, niemand kann autark existieren. Werden die Wanderarbeiter vertrieben, hat das zwangsläufig Auswirkungen auf die Mittel- und Oberschicht. Dies führt letztendlich zu einer Verschlechterung des urbanen Ökosystems und zu einer Verschlechterung des städtischen Lebens für alle.
In Anbetracht der Vielfalt und Komplexität der Stadtökologie ist eine planwirtschaftliche Herangehensweise nicht realisierbar. Bei unseren wirtschaftlichen Aktivitäten kann kein noch so kluger Kopf alles verstehen, alles planen, alles kontrollieren. Dies ist eine schier unmögliche Aufgabe. Das Vertreiben der Wanderarbeiter ist weder ein Mittel zum Behandeln der Symptome „urbaner Krankheiten“ noch kann es die verschiedenen Probleme des Urbanisierungsprozesses lösen. Wenn sie gebraucht werden um die Städte aufzubauen, werden die Arbeitsmigranten in die Städte geholt und wenn die Städte dann überfüllt sind, werden sie weggejagt – wo bleiben da Gerechtigkeit und Moral?
Frage: Sie argumentieren, dass es bei einer Veränderung des Status‘ chinesischer Bauern und Arbeitsmigranten als „Bürger zweiter Klasse“ auf die Kraft der Selbstorganisation und die Kraft der Gesellschaft ankommt. Sehen Sie in den Säuberungsaktionen Ende 2017 Anzeichen für eine erwachende Fähigkeit zur Selbstorganisation?
Antwort: Seit langem schon gelten Chinas Bauern als ein „Eimer losen Sandes“ oder als „Sack loser Kartoffeln“. Ihnen werden Merkmale wie arm, schwach, vereinzelt und töricht zugeschrieben. Um mit den Worten von Fei Xiaotong [chinesischer Soziologe] zu sprechen: „Unsere Nation ist in der Tat untrennbar mit dem Boden verbunden.“ Unsere glorreiche Geschichte hat ihren Ursprung im Boden. Sie bleibt an den Boden gebunden und wir müssen erkennen, dass wir uns nicht in den Himmel erheben können („Xiangtu Zhongguo“) [Titel der englischen Übersetzung: „From the Soil“]. Während es gilt, unsere nationalen Merkmale anzuerkennen, müssen wir auch darüber nachdenken, wie diese entstanden sind. Institutionelle Strukturen sowie politische und kulturelle Traditionen sind ganz klar die Hauptursache für den Zustand einer Bevölkerung im ländlichen Raum – ja gar im gesamten Land, der mit einem „Eimer losen Sandes“ verglichen werden kann. Genauer gesagt ist es die Interaktion zwischen Institutionen, Kultur und der menschlichen Natur, die das heutige Volksgefühl geprägt haben.
Was die Organisation der Bauern angeht, hat es seit jeher an der Fähigkeit gefehlt, sich selbst zu organisieren. Woran es den Bauern hingegen nie gemangelt hat, war ihre Organisierung, Mobilisierung und Aktivierung durch andere. Diese Art des Organisiert-Werdens durch andere kann in Form von Genossenschaften oder Kommunen erfolgen. Sein extremstes Beispiel ist das der Volkskommunen, aber auch die nach der Reform und Öffnung entstandenen [sozialistischen] Dörfer wie Nanjie oder Huaxi gehören dazu. Chinas Bauern sind nicht von Natur aus wie ein „Eimer losen Sandes“ oder ein „Sack loser Kartoffeln“. Es sind diese langjährigen politischen und kulturellen Traditionen, die ihren Raum und ihre Fähigkeit zum kollektiven Handeln und zur sozialen Organisation beschnitten haben. Um noch einmal auf das Beispiel der Säuberungsaktionen zurückzukommen: Denjenigen, deren Häuser geräumt und die vertrieben wurden, blieb nur, mit ihren Familien zurückzugehen oder noch weiter an den Rand der Städte zu ziehen. Manche fanden gar keine neue Unterkunft und musste mitten im kalten Winter ohne Obdach auf der Straße übernachten. Die Menschen sind in der Tat machtlos sich zu wehren und habe keine Möglichkeit, ihre Rechte einzufordern. Zwar haben zu der Zeit einige Einzelpersonen, Institutionen und NGOs versucht, den Menschen zu helfen, aber aufgrund von Informationsasymmetrien – insbesondere der Unterdrückung von Informationen durch die Stadtverwaltungen – konnte nicht genug gesellschaftliche Interaktion und Unterstützung mobilisiert werden.
Frage: Wie können wir neben dem Widerstand, der von Bauern und Wanderarbeiter selbst ausgeht, als Land und Gesellschaft besser die grundlegenden Rechte von Arbeitsmigranten in unseren Städten schützen?
Antwort: Wie ich schon früher gesagt habe, hat die lange Trennung zwischen Stadt und Land und die dadurch entstandene sogenannten Stadt-Land-Dualität sich nicht nur als soziale Struktur sondern auch als Denkstruktur verfestigt. Eine Urbanisierung, welche die Landbevölkerung ihrer Rechte beraubt, ist eine Urbanisierung ohne Subjekte und ohne das Recht auf freie Entscheidung. Im Zuge dieses Prozesses werden die Rechte der Bauern entweder vernachlässigt oder geringgeschätzt. Die Bauern gelten als eine schutzbedürftige, nicht als Subjekte anerkannte Gruppe, die ihr Leben nicht selbstständig organisieren und keine unabhängigen Entscheidungen treffen kann. Dies ist sowohl ein Resultat unseres Systems als auch unserer Sichtweisen. Um die Probleme der ländlichen Bevölkerung zu lösen und den Prozess der Urbanisierung und Modernisierung Chinas voranzutreiben, muss die Handlungsfähigkeit der Bauern gestärkt werden, das heißt man muss ihre unveräußerlichen Rechte auf Leben, Eigentum und dem Streben nach Glück anerkennen. Mit anderen Worten, um die Tragödie der unteren sozialen Schichten zu vermeiden, um eine Weg aus der Misere der Bauern und der Landwirtschaft zu finden, um den Niedergang der ländlichen Gesellschaft und die Krankheiten der Urbanisierung zu vermeiden, sind institutionelle Veränderungen erforderlich, die die Grundrechte aller Bürger einschließlich der Bauern gewährleisten.
Frage: Mit der Beschleunigung der Urbanisierung und der zunehmenden Konzentration der Bevölkerung in den Großstädten gibt es auch einige „neue Bürger“, die sich dafür entscheiden, in ihre Heimatstädte zurückzukehren, um dort einer Arbeit nachzugehen oder gar ein Unternehmen zu gründen. Enturbanisierung und die Wiederbelebung des ländlichen Raums sind zu heißen Themen avanciert. Worin liegt Ihrer Meinung nach der Schlüssel zur Wiederbelebung bzw. zur Erneuerung des ländlichen Raums?
Antwort: Der Dreh- und Angelpunkt der Wiederbelebung der ländlichen Regionen – des Aufbaus eines neues ländlichen Raums – liegt darin, wie bereits vorhin erwähnt, die Grundrechte der Bauern als gleichberechtigte Bürger zu verwirklichen und zu schützen.
Zunächst müssen wir den Status der Bauern als Hauptsubjekte der ländlichen Gesellschaft und Entwicklung anerkennen. Das Dilemma des ländlichen Chinas liegt genau darin begründet, dass die Bauern über eine langen Zeitraum hinweg ihres Status‘ als Subjekte beraubt und zu passiven Objekten degradiert worden sind. Dadurch wurden Sie der Möglichkeit beraubt, unabhängig Entscheidungen zu treffen, sich zu organisieren und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Tatsächlich sind die schwache Position der Bauern und ihr niedriger sozialer Status nicht auf eine Form der inhärenten Inkompetenz zurückzuführen – also einer Unfähigkeit, für ich selbst planen und ein gutes Leben führen zu können. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine institutionell begründete Schwäche. Es ist die duale Stadt/Land-Struktur, welche die Landbevölkerung zu einer strukturellen Unterschicht macht. Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass weder politische Führer noch Wissenschaftler oder Journalisten für die Landbevölkerung sprechen können, ganz zu schweigen davon, diese zu erlösen oder stellvertretend für die Subjektivität der ländlichen Bevölkerung aufzutreten.
Die Landbevölkerung sollte über die gleichen Rechte wie alle anderen Bürger verfügen, und das grundlegendste dieser Rechte sind klare und vollständige Eigentumsrechte an Land. Der Wirtschaftswissenschaftler Zhou Qiren hat einmal klar darauf hingewiesen, dass „der Schutz eines effizienten Eigentumsrechtssystems durch den Staat der Schlüssel für ein langfristiges Wirtschaftswachstum ist. In der Regel bietet der Staat diesen Schutz jedoch nicht automatisch an, es sei denn, Landwirte, verschiedene aufstrebende Vertreter der Eigentumsrechte und die ländlichen Eliten treiben durch eine schrittweise Neuaushandlung mit dem Staat und durch Kommunikation untereinander die Herausbildung eines neuen Eigentumsrechtssystems voran. Chinas Erfahrung zeigt, dass in einem ursprünglich öffentlichen Eigentumssystem wirksame private Eigentumsrechte geschaffen werden können“ [5]. Shi Xiaohu, ein Experte für ländliche Fragen, vertritt hinsichtlich des Dilemmas gesicherter Bodeneigentumsrechte für die ländliche Bevölkerung folgende Ansicht: „Die oft diskutierte Frage, ob Eigentum an Land privat veräußert werden kann, bringt die mit einer bestimmten Ideologie einhergehenden, spezifischen rechtlichen Beschränkungen zum Ausdruck, nicht jedoch die wahre Bedeutung von Bodeneigentum und dessen Marktwert. Denn in den meisten Ländern dieser Welt kann und muss der Wert des Bodens durch Markttransaktionen sichtbar gemacht werden. Gemäß der internationalen Praxis umfasst Bodeneigentum drei Grundrechte. Diese beinhalten neben dem sogenannten Bodennutzungsrecht – in China auch das vertraglich zugesicherte Recht zur Bewirtschaftung des Bodens genannt – das Bodenentwicklungsrecht und das Bodenexistenzrecht“ [6].
Die Rückgabe der Bodeneigentumsrechte an die Landbevölkerung, der Schutz ihres Landeigentums und die Schaffung tatsächlicher und klarer Eigentumsrechte bilden eine Grundlage, auf der die Bauern unabhängig wirtschaften können, freie Geschäftsbeziehungen und freiwillig Partnerschaften eingehen können. Unabhängig davon, ob sich Bauern entscheiden, in die Stadt zu ziehen, auf dem Land zu bleiben oder in ihre Heimat auf dem Land zurückzukehren, die Grundvoraussetzung ist, dass sie zu Bürgern werden, die die gleichen Bürgerrechte wie die städtische Bevölkerung genießen, einschließlich grundlegender Menschenrechte sowie politischer und sozialer Rechte. Diese Rechte sollten durch die Verfassung und das Gesetzt geschützt werden und sich nicht von denen der städtischen Bevölkerung unterscheiden. Dies ist auch von grundsätzlicher Bedeutung für den gesamten Transformationsprozess Chinas.
Frage: Wir wissen, dass Sie derzeit anhand von Oral History Interviews die Erfahrungsgeschichte chinesischer Bauern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erforschen. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass in den Dörfern, in denen Sie bereits seit langer Zeit die Erfahrungsgeschichte der dort lebenden Landbevölkerung untersuchen, die Bauern selbst sich als „Leidende“ (shoukuren) bezeichnen. Ihrer Ansicht nach bildet die Leidensgeschichte jeder einzelnen Bäuerin und jedes einzelnen Bauern einen Teil der Geschichte der chinesischen Gesellschaft als Ganzes. In welcher Form sind sie diesem „Leiden“ in Ihrer Forschung begegnet? Was sind die Leiden der chinesischen Bauern (mit denen sicherlich viele Chinese ganz und gar nicht vertraut sind)?
Antwort: Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine einzigartige Periode in der chinesischen Geschichte und auch in der Geschichte weltweit. In einer Reihe sich überlappender Umwälzungen und Revolutionen hat die chinesische Gesellschaft tiefgreifende Veränderungen durchgemacht. Chinesische Dörfer haben sich von der Tradition zur Moderne gewandelt und gewöhnliche Bauern habe epochale historische Veränderungen miterlebt. Das Studium dieser außergewöhnlichen historischen Epoche hat ein großes Maß an offizieller Geschichtsschreibung auf der Basis schriftlicher Dokumente hervorgebracht. Aber Aufzeichnungen darüber, wie gewöhnliche Menschen, und insbesondere gewöhnliche Dorfbewohner diese Epoche erlebt haben, sind relativ spärlich gesät. Aber ohne das Sammeln und die Analyse solch volkstümlichen Materials kann das Verständnis dieser wichtigen historischen Periode und gesellschaftlichen Umwälzung nicht als umfassend und korrekt gelten. Unsere Forschungsarbeit besteht in der Bemühung, die Geschichten des Alltagslebens gewöhnlicher Menschen zu dieser Zeit aufzuzeichnen und zu analysieren. Wenn ich bei meiner Forschungsarbeit auf dem Land Daten erhebe und gewöhnlichen Bäuerinnen und Bauern gegenüberstehe, wird mir oft bewusst, wieviel Glück ich gehabt habe. Was wäre gewesen, frage ich mich, wenn ich selbst in einem solchen Dorf auf dem Land oder in den Bergen aufgewachsen wäre? Es wird uns in diesen Momenten bewusst, dass wir es wohl nicht besser machen würden als diese einfachen Bäuerinnen und Bauern. Ihrer Fähigkeit zu überleben wohnt eine gewissen Lebensweisheit inne, mit den Härten des Lebens umzugehen. Angesichts der Leiden, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind, müssen sie all ihren Mut, ihre Fähigkeiten und ihre Klugheit mobilisieren, um unter diesen Bedingungen leben zu können.
Der Begriff der „Leidenden“ ist nicht eine Bezeichnung, die wir als Forscher für unseren Forschungsgegenstand verwenden, sondern es ist eine von den lokalen Bauern selbst gewählte Bezeichnung. Im Dorf Ji im Norden der Provinz Shaanxi sowie in der gesamten dortigen Region werden Bauern als „shoukuren“ (Leidende) bezeichnet. Diese traditionelle Bezeichnung wird bis heute verwendet. Das alltägliche Leid der Bauern manifestiert sich in den unterschiedlichsten Aspekten. Fast alle Bäuerinnen und Bauern, mit denen wir während unserer Forschung in Kontakt gekommen sind, zählen sich selbst zu den „Leidenden“. In Erinnerung an die Vergangenheit scheint es, dass fast jeder der von uns interviewten Menschen schier unendliches Leid durchgemacht hat. Zwänge, Verlegenheiten und Leiden des ländlichen Lebens finden ihren Ausdruck in Armut, Arbeitsverhältnissen, familiären und ehelichen Beziehungen, geschlechtsspezifischen Unterschieden und körperlichen Behinderungen. Der Hunger ist das wichtigste Zeichen solchen Leidens. Solche schmerzhaften Erfahrungen spielen in den Erzählungen der Bewohner des Dorfes Ji vom frühesten Zeitpunkt, zu dem noch Erinnerungen existieren, bis in die Zeit der Reform- und Öffnungspolitik Chinas eine Rolle.
Das Leiden im alltäglichen Leben scheint immer diffus und seine Gründe schwer fassbar zu sein. Die Dorfbewohner selbst führen es oft auf das bittere Schicksal (mingku) zurück, auf dem Land und als Bäuerin oder Bauer geboren worden zu sein. Dieser Fatalismus in Bezug auf das Leiden hat sich im Indoktrinationsprozess unserer nationalen Ideologie gewandelt. Vom Staat angeführte soziale Projekte und Experimente in Form revolutionärer Bewegungen haben Veränderungen in der ländlichen Gesellschaft sowie Veränderungen im Leben und Schicksal gewöhnlicher Bauern bewirkt. Der revolutionäre Prozess wurde oft als ein Prozess der Linderung des Leidens beschrieben. Doch die Revolution im Namen der Leidenden hat den Bauern ähnliche oder auch neue Formen des Leids beschert. Wenn Sie den Berichten über mehr als ein halbes Jahrhunderts des Lebens gewöhnlicher Dorfbewohner zuhören, berührt Sie vor allem das Leid der Menschen – das tiefe, Tag für Tag andauernde, von den Blicken anderer abgeschirmte und verdeckte, das die Menschen stumpf machende Leid.
Die mündlichen Überlieferungen der Bauern erzählen die Geschichte des Kampfes gegen das Leiden. Sie machen deutlich, dass die sozial unteren Schichten in gewissem Sinne die Geschichte schreiben und vorantreiben, weil sie keine andere Wahl haben, als im Leiden zu existieren.
Es wird oft gesagt, dass Leiden der Reichtum des Lebens ist. Ich denke, es hängt davon ab, wie wir mit Leiden umgehen. Wenn Leiden verborgen, vergessen oder sogar idealisiert wird, wie kann es dann als Reichtum betrachtet werden? Wenn das Leiden nicht erzählt, nicht aufgezeichnet, nicht durchdacht, sich nicht ins Gedächtnis zurückgerufen wird, wie kann es dann als Reichtum betrachtet werden? Leid, welches nicht in die Geschichte eingehen kann, ist umsonst erlitten worden. Wenn Leid missverstanden und den falschen Ursachen zugeschrieben wird, kann sich die Tragödie wiederholen und erneutes Leiden über uns kommen. Das Leid der Bauern sollte daher ins kollektive Gedächtnis der gesamten Nation eingehen. Wenn das Leiden durch Erzählen und Aufzeichnen in die Geschichte eingehen kann, entfaltet es eine historische Kraft. Wenn die gesellschaftlichen Wurzeln des Leidens aufgedeckt werden, wird es von einer individuellen Erfahrung und Wahrnehmung zu einer sozialen Kraft. Wenn die Vorurteile und der Fatalismus beseitigt und der Ursprung des Leids sichtbar gemacht werden, wird das Leid zu einer Kraft der Umwälzung, des Wiederaufbaus und der Befreiung.
Endnoten:
[1] Siehe http://www.gov.cn/xinwen/2015-04/29/content_2854930.htm
[2] Forschungsgruppe am Institut für Soziologie der Tsinghua Universität (2013). Dilemma und Handlungsweise: Der Konflikt zwischen der neuen Generation von Wanderarbeitern und dem Produktionssystem der Wanderarbeiter, The Sociological Review of Tsinghua University, 6, 46–131.
[3] Forschungsteam von Professor Scott Rozelle, Stanford University, "Rural Education Action Program" (REAP), siehe https://theinitium.com/article/20161206-dailynews-china-western-children/
[4] Siehe https://zh.wikipedia.org/wiki/%E5%85%A8%E7%90%83%E5%9F%8E%E5%B8%82%E4%BA%BA%E5%8F%A3%E6%8E%92%E5%90%8D
[5] Siehe Zhou Qiren: Ländliche Reform in China: Änderungen in der Beziehung zwischen Staat und Landbesitz: Ein Überblick über die Geschichte der Änderungen des Wirtschaftssystems http://www.aisixiang.com/data/16071.html#
[6] Siehe Shi Xiaohu: Reform des Systems der Eigentumsrechte für ländliche und landwirtschaftliche Flächen – Der zweite Weg der Reform des Systems der kollektiven Landrechte für ländliche Gebiete https://mp.weixin.qq.com/s?__biz=MzU4OTEwMzg3Ng==&mid=2247484491&idx=1&sn=c25947bce76db86903ebb638a032d9ac&chksm=fdd3d220caa45b3649382ac3f513dd5ee6e488769b46b702ecaa3f7ae3210b07574cc9278455&mpshare=1&scene=1&srcid=0125BvdT7wkJUxGsRhMBYA2P&pass_ticket=SHmKxbeTaFAlSVQiwovkasa%2BUgw4pJgXKKbVxpc77i2LBiyb4cyZOj%2BJHwjRoy91#rd
[i] 郭于华:农民工问题,是乡愁也是国愁, veröffentlicht online am 16. Oktober 2018 unter
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