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  • Michaela Boehme

Verlassene Dörfer: Der Niedergang des ländlichen Chinas

Aktualisiert: 8. Apr. 2021


 

Liao Hongqing und Wang Fanyu, "Jeden Tag verschwinden 80 Dörfer" [1]

Übersetzt von Michaela Böhme

 

Anmerkungen zum Text


Ende 2020 verkündigte Chinas politische Führung einen umfassenden Sieg im Kampf gegen die extreme Armut auf dem Lande. Damit löst die Kommunistische Partei nicht nur ein zentrales Versprechen aus der Amtszeit Xi Jinpings ein, sondern kommt auch ihrem Jahrhundertziel der Errichtung einer „Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand“ einen wichtigen Schritt näher.


Die Zentralregierung definiert einen Bezirk als von extremer Armut betroffen, wenn mehr als zwei Prozent seiner Einwohner über ein Jahreseinkommen von weniger als 4.000 Yuan (ca. 500 Euro) verfügen. Am 23. November 2020 ließ die Regierung verlauten, dass dank einer umfassenden Armutsbekämpfungskampagne die Armutsgrenze in allen 832 betroffenen Bezirken nun überschritten worden sei.

Doch trotz der umfassenden Maßnahmen der Behörden im Kampf gegen die Armut steht das ländliche China weiterhin vor großen Herausforderungen. Viele ländliche Regionen sind geprägt von fehlenden Arbeits- und Zukunftschancen, veralteten Gesellschaftsstrukturen sowie von traditionellen Wertevorstellungen, die sich nur schwer mit den Sichtweisen moderner Chinesinnen und Chinesen vereinbaren lassen. Dies führt dazu, dass vor allem jüngere Menschen ihr Glück in den Städten suchen, während die Alten und sozial Schwachen zurückbleiben. Das „Aussterben“ der Dörfer ist die fast unweigerliche Folge dieser Dynamik.


Eine Reportage von Liao Hongqing und Wang Fanyu, die im Februar auf dem WeChat-Portal „Truman’s Story“ (真实故事计划) veröffentlicht wurde, beschreibt mit knappen aber eindringlichen Worten den Niedergang eines Dorfs im Norden der Provinz Shaanxi. Das fragile Ökosystem der Löß-Hochebene im Norden der Provinz mit seinen kargen Böden und häufigen Dürren sowie seiner unterentwickelten Wirtschaft hat die Region zu einem der Brennpunkte in Chinas Armutsbekämpfungskampagne werden lassen.


Liao Hongqing und Wang Fanyu zeigen, dass Subventionen und Sozialprogramme der Regierung zwar die schlimmsten Nöte der Alten und Kranken lindern, nicht aber zwangsläufig den Niedergang der chinesischen Dörfer verhindern können – denn dieser ist auch kultureller und sozialer Natur.


 

"Jeden Tag verschwinden 80 Dörfer"

von Liao Hongqing und Wang Fanyu



Laut Statistik ist die Anzahl an Dörfern in China zwischen 2010 und 2020 von 3,6 auf 2,7 Millionen gesunken. Dies entspricht dem Verschwinden von 80 bis 100 Dörfern pro Tag. Das Dorf Xinmin auf der Löss-Hochebene im Norden der Provinz Shaanxi ist eines der Dörfer, die vom Verschwinden betroffen sind.



Der letzte Hüter des Bodens


Der 56-jährige Xue Jinyi weiß noch nicht, wie er sich von dem Stück Ackerland verabschieden soll, dem er sich seit 30 Jahren verbunden fühlt.


Er lebt in Xinmin, ursprünglich Zhangjiagou genannt, einem Bauerndorf im Norden der Provinz Shaanxi. Früher lebte hier ein Familienclan namens Zhang, daher der Name. Vor einigen hundert Jahren starb der gesamte Zhang-Clan an einer Seuche. Die Toten wurden westlich des Dorfes begraben, und das Dorf blieb verlassen zurück. Erst langsam wurde es wieder neu besiedelt.


Die Bauern in Xinmin leben vom Ackerbau und der Viehzucht, ihr jährliches Einkommen beträgt 115.000 Yuan – ca. 15.000 Euro – pro Kopf. Auch bei Xue Jinyi ist das so. Der Bauer bewirtschaftet zwei große Gewächshäuser und etwas mehr als einen Hektar Ackerland sowie eine kleine Hühnerzucht. Von dieser Form der Landwirtschaft leben hier viele Menschen. „In guten Jahren erwirtschafte ich mehr als 100.000 Yuan im Jahr, in schlechten Jahren sind es vielleicht 80.000 oder 90.000 Yuan. Im Durchschnitt komme ich auf ungefähr 100.000 Yuan im Jahr.“


Xue Jinyi war ursprünglich gar kein Bauer. Als junger Mann arbeitete er zehn Jahre in den Kohleminen von Tongchuan in der Provinz Shaanxi. Doch die Arbeit in den Minen ist nicht sicher. Im Falle eines Minenunglücks sind die Überlebenschancen sehr gering. Xue Jinyi begann daher zu überlegen, ob er nicht lieber ein Handwerk erlernen sollte. Nach einer Lehre als Tischler im Dorf ging er in die Stadt und machte dort eine Tischlerei auf. Für seine Hochzeit kehrte er jedoch schließlich wieder ins Dorf zurück und lebt seitdem von der Landwirtschaft.


Nach dreißig Jahren Arbeit auf dem Reisfeld und zwanzig Jahren im Gewächshaus hat Xue Jinyi reichliche Erfahrungen in der Landwirtschaft gesammelt. Doch noch immer treibt ihn die Sorge um, dass seine Lebensgrundlage als Bauer so stark vom Wetter abhängig ist. 2013 begann Xue Jinyi damit, vor Ort eine Geflügelfarm aufzubauen. „Ich habe 200.000 Yuan in die Farm investiert. Nachdem ich die ersten Hühner aufgezogen hatte und die Kosten nicht decken konnte, habe ich mir noch einmal 50.000 Yuan geliehen“, sagt Xue Jinyi mit bitterem Lächeln.


Aufgrund der Corona-Pandemie sind die Eierpreise in der ersten Jahreshälfte kontinuierlich gefallen. Dies hat die Geflügelzüchter im Dorf hart getroffen. Glücklicherweise gehört es zu den dörflichen Traditionen, Geld für schlechtere Zeiten zurückzulegen, sodass sich bislang die Not noch nicht breitmachen konnte.


Xue Jinyi hat drei Kinder. Der älteste Sohn lebt seit seiner Heirat im Haus seiner Schwiegereltern und kümmert sich dort um seine an Depressionen leidende Ehefrau. Der Zweitälteste arbeitet in der Inneren Mongolei als Fernkraftfahrer. Er verdient pro Jahr 70.000 bis 80.000 Yuan und ist unter den Kindern Xue Jinyis derjenige mit den stabilsten Lebensverhältnissen. Xue Jinyis dritter Sohn versteht sich nicht aufs Sparen. Wenn er Geld verdient, gibt er es gleich wieder aus. Mit 31 Jahren hat er noch keine Frau gefunden und lebt als einer der Junggesellen im Dorf. Auch wenn er mit seinen Kindern bislang noch nicht darüber gesprochen hat, ist sich Xue Jinyi sicher, dass es unter seinen Söhnen niemanden gibt, der sein Stück Ackerland später übernehmen möchte.


Für den fast 60-jährigen Xue Jinyi spielt sich das Leben zwischen seinem Feld und seiner Hühnerfarm ab. Jeden Morgen um sechs ist er in den Ställen und füttert die Hühner. Gegen neun fährt er mit seinem Wagen durch die Ställe, sammelt die Eier ein und bringt sie in den Lagerraum. Danach eilt er wieder zurück zum Gewächshaus, um das Gemüse zu gießen. Nach dem Mittagessen geht es für eine weitere Fütterung zurück in den Hühnerstall. Erst abends um neun Uhr kann sich Xue Jinyi hinsetzen und etwas Luft holen.


„Wenn ich es mit der Arbeit nicht mehr schaffe, lasse ich das Feld brach liegen. Immerhin habe ich dann ja noch die Hühnerzucht“, sagt Xue Jinyi. „Heute ist eben anders als früher“, sagt er oft mit einem Seufzer.



Niedergang der Dorfgemeinschaft


„Warum ist der Tempel geschlossen?“


„Die Kreisverwaltung hat beschlossen, diesen Ort zum Tourismusgebiet umzuwidmen.“


„Ist der Tempel für die Gläubigen geöffnet?“


„Nein, nicht mehr.“


„Und wie sieht es aus mit Opernaufführungen?“


„Gibt’s nicht mehr.“


Der Bailu-Tempel befindet sich außerhalb des Dorfes Xinmin und ist bekannt für seinen 1300 Jahre alten Ginkgobaum. Der Überlieferung nach wurde der Baum zur Zeit der Tang-Dynastie von einem vorbeziehenden Wandermönch gepflanzt. Aufgrund seiner langen Geschichte nennen ihn die Dorfbewohner „heiliger Baum“. Jedes Jahr nach dem ersten Schnee verfärben sich die Blätter des Baums golden. Dann kommen viele Touristen hierher, um sie zu bewundern. Die Zweige des Baumes hängen dann voller seidener Segensbänder, auf denen die Wünsche der Besucher geschrieben stehen.


In Zukunft soll aus der Tempelanlage eine Attraktion für den Tourismus werden. Innerhalb der Anlage hängt vor den Eingangstüren aller Tempel ein Schloss. „Um die Anlage für die Touristen herzurichten, mussten wir den Tempel temporär schließen. Aktuell kann hier nicht gebetet und Weihrauch geopfert werden“, sagt Gao Runsheng. Als neuer Pförtner ist Gao Runsheng für die tägliche Reinigung des Tempels verantwortlich. Der vorherige Pförtner wurde von den zuständigen Behörden entlassen, da er Spendengelder aus der Spendenbox des Tempels gestohlen hatte.


Am Neujahrstag wollte Gao Runsheng einigen Verwandten den Tempel zeigen, die hier zur Andacht hergekommen waren. Doch er versuchte vergeblich, mit dem Schlüssel das Tor des Tempels zu öffnen. Das Schloss bewegte sich nicht, zu lange schon war es nicht mehr geöffnet wurden.


Gao Rusheng erinnert sich, früher habe es im Bailu-Tempel zum 18. März und 19. September des Mondkalenders Segensaktivitäten gegeben. Viele Dorfbewohner seinen dann in den Tempel gekommen, um für gutes Wetter und Glück zu beten. Im Inneren der Tempelanlage habe es dann immer Aufführungen chinesischer Operntruppen und Geschichtenerzähler gegeben, während Schausteller an ihren Verkaufsständen allerlei Gerätschaften anboten. Zum nächsten Jahr hin sollen diese Aktivitäten dann Stück für Stück eingestellt werden. Nur das Geschichtenerzählen solle nach übrigbleiben.


Das Verschwinden der traditionellen Bräuche frisst sich allmählich durch das Wenige, was vom Gemeinschaftsleben des Dorfes noch übriggeblieben ist.


Die Wusheng-Hoffnung-Grundschule des Dorfs Xinmin wurde von einem aus Zhouziwan stammenden Privatmann namens Zhou Wusheng für 100,000 Yuan errichtet. Die Höhlenschule besteht aus fünf Klassenräumen und besitzt einen Basketballkorb. In drei Klassenstufen unterteilt wurden hier ein Dutzend Kinder von einer Lehrkraft unterrichtet. Die Lehrkraft stammte ebenfalls aus dem Dorf und besaß einen Mittelschulenabschluss. Ein Lehrzertifikat hatte sie nicht.


Oft konnten nur zwei von zehn Kindern das Gymnasium besuchen, fünf schafften es bis zur Mittelschule und die restlichen drei brachen die Schule für gewöhnlich nach der Grundschule ab. „Das hatte nichts damit zu tun, dass es die familiären Bedingungen nicht zulassen würden – das Schulgeld war sehr billig – sondern damit, dass manche einfach nicht zur Schule wollten“, seufzt der Parteisekretär des Dorfs. Für die Schulabbrecher gab es dann nur zwei Lebenswege: entweder blieben sie im Dorf und folgten in den Fußstapfen ihrer Eltern als Bauern oder sie gingen fort von hier einer noch ungewisseren Zukunft entgegen.


Aufgrund fehlender Schüler und unzureichender Mittel fusionierte die 2000 erbaute Grundschule vor einigen Jahren mit der Grundschule der Kreisstadt und stellte ihren Unterrichtsbetrieb ein. Seitdem heißt das Gebäude Xinmin-Brigade-Konferenzraum.


Die geschlossene Tempelanlage, die verlassene Grundschule … Der Niedergang des Gemeinschaftslebens des Dorfes scheint wie eine versiegende Quelle, die immer kleiner wird, bis sie keiner mehr bemerkt.



Ehetragödien


Wenn es sich um einen Jungen handelt, wird die Familie ihr Bestes geben, dass er die Schule besuchen kann. Mädchen hingegen brechen die Schule oft nach der Grundschule ab. Im Alter von 16 oder 17 Jahren verlassen sie bereits meist das Elternhaus, um zu heiraten [2]. Das ist hier der normale Lebensweg der Frauen.


Mit 17 Jahren heiratet Wei Wen in einer von ihren Eltern arrangierten Ehe eine jungen Mann aus besseren familiären Verhältnissen. Die Eltern beider Familien richten die Hochzeitsfeier aus und vereinbaren, einen Trauschein beim zuständigen Amt zu beantragen, sobald das rechtliche Heiratsalter erreicht ist. Ein Jahr später bringt Wei Wen einen Jungen zur Welt, der auf den Haushalt seiner Mutter registriert wird. Doch zwischen Wei Wens Vater und ihrem Ehemann gibt es Reibereien. Immer wieder streiten sich die beiden, und manchmal kommt es sogar zu Handgreiflichkeiten. Auch Wei Wens Ehe bleibt davon nicht unberührt.

Als ihr Ehemann schließlich die Scheidung verlangt, zögert Wei Wen zunächst. Sie erkundigt sich beim Justizbüro bezüglich der Verteilung des Eigentums im Fall einer Scheidung. Dort teilt man ihr mit, dass Ehen ohne offizielle Trauurkunde nicht gesetzlich geschützt seien und die Gerichte in einem solchen Fall auch keine Klagen annehmen würde. Am Ende der Scheidung von ihrem Ehemann geht Wei Wen vollkommen leer aus, und selbst ihr Kind verliert sie an die Familie ihres Ex-Mannes.


Im Dorf Xinmin leben damals ungefähr 200 Menschen, davon sind sieben oder acht Junggesellen, die keine Frau finden können. Guo Long hat da noch Glück gehabt. Nur wenige Monate nach einem ersten Treffen heiratet er Chunxia aus einem Nachbardorf und kommt in den Genuss des Ehelebens. Doch nur kurze Zeit später bemerkt er, dass Chunxia ständig irgendwelche Tabletten einnimmt. Als sie sich nach einem Streit dann sogar selbst verletzt, bringt er sie nach Xi’an ins Krankenhaus. Dort stellt man fest, dass sie an Depressionen leidet.


Nachdem Guo Long erfährt, dass die zur Behandlung verwendeten Medikamente vermutlich zur Unfruchtbarkeit führen, denkt er sofort an Scheidung. Nach einem Gespräch mit seinen Eltern beschließt er, einen harten Schlussstrich zu ziehen, nimmt das Auto und fährt nach Hause. Chunxia lässt er alleine im Krankenhaus zurück. Als diese nach Abschluss der Untersuchungen wieder in ihr neues Zuhause bei den Schwiegereltern zurückkehrt, tritt ihr die Schwiegermutter entgegen und bringt sie zurück ins Haus ihrer Eltern. Ende August im Jahr ihrer Hochzeit reicht Guo Longs Familie dann beim Gericht Klage ein, weil Chunxia ihre Krankengeschichte verschwiegen und kein Kind zur Welt gebracht habe und fordert einen Rückgabe des Brautgeldes [3]. Dies bringt Chunxia endgültige um ihre Fassung.


Eines morgens Anfang September verlässt sie Xinmin, nimmt den Shuttlebus nach Hong’an und beendet ihr kurzes Leben auf dem Berg gegenüber der Busstation Nanqiao. Nur wenig später erhalten ihre Eltern mehrere zehntausend Yuan für die Geisterhochzeit ihrer toten Tochter [4]. Guo Long hingegen lebt bis heute alleine, er hat keine neue Ehefrau mehr gefunden.


In den letzten drei Jahren haben keine Frauen in das Dorf eingeheiratet, stattdessen hat eine Tochter der Xue-Familie nach ihrer Hochzeit das Dorf verlassen. Drei ältere Menschen sind nacheinander verstorben, während bei den Wangs eine Tochter das Licht der Welt erblickt hat.


Hochzeiten und Beerdigungen, eigentlich die normalsten Sachen auf der Welt, die fest im Leben des Menschen verankert sind, sind heute kompliziert geworden und nur noch schwer zu verstehen.



Verlassene Menschen


Unter den vielen einsamen Menschen im Dorf Xinmin ist San’er das wohl ungewöhnlichste Beispiel.

Seine Frau ist bei der Geburt eines ihrer Kinder verblutet. Seitdem hangen der Hof und das Aufziehen der Kinder allein an San’er. Sein ältester Sohn Chen Neng hält sich in der Stadt mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Seine Tochter Chen Qian hat schon früh einen Mann aus dem Nachbardorf Sigou geheiratet. Sein jüngster Sohn Chen Li wurde sofort nach der Geburt von San’ers jüngerem Bruder adoptiert. Im Alter von 27 Jahren begeht Chen Li Selbstmord, indem er sich an der Seilwinde des Gewächshauses aufhängt.


Die Höhlenwohnung, in der San’er lebt, ist die baufälligste des ganzen Dorfes. Sie besteht aus gelbem Lehm und in den Fensterrahmen ist traditionelles Ölpapier anstelle von Fensterglas verspannt. Die Wände sind ungleichmäßig mit gelbem Lehm verputzt. Im Wohnraum befinden sich zwei Hocker, ein Tisch, ein Kleiderschrank und ein Küchenherd, der mit dem Kang – dem traditionellen Ofenbett – verbunden ist. Ansonsten gibt es keine weiteren Gegenstände.


Drei Jahre vor seinem Tod wird während einer ärztlichen Untersuchung der gesamten Dorfgemeinschaft bei San’er eine Hirnhautentzündung festgestellt. Als einer der armen Haushalte des Dorfs kann sich San’er die Kosten für die medizinische Behandlung erstatten lassen. Doch da seine drei Kinder nur selten zu Besuch nach Hause kommen, gibt es niemanden, der den halb gelähmten San’er in das Krankenhaus der Kreisstadt bringen könnte. Seine Gesundheit verfällt so von Jahr zu Jahr.


San’ers Lähmung geht auf einen Sturz zurück. Als er auf dem Boden aufschlägt, verliert er jegliches Gefühl in der unteren Körperhälfte. Nur mit Hilfe seiner beiden Arme gelingt es ihm, den Unterkörper mühsam nach vorne zu ziehen. Bei sich zu Hause angekommen, dreht er den Wasserhahn an der Zisterne auf. Als die Nachbarn im Dorf das kostbare Wasser den Hang herablaufen sehen, laufen sie zur Behausung San‘ers hinauf und kommen gerade noch rechtzeitig, um ihn zu retten. Nach dem Unfall sieht sich San’er gezwungen, Landwirtschaft und Viehzucht aufzugeben. Seitdem lebt er allein von den staatlichen Subventionen von 600 Yuan im Jahr für arme Haushalte.


Eigentlich steht San’er eine Sozialversicherungskarte zu, mit der er sich seine Rente auszahlen lassen könnte. Doch mit dem Tag ihrer Ausstellung wurde ihm die Karte von seinem ältesten Sohn Chen Neng einfach entwendet. Jedes Mal wenn San’er von der Dorfgemeinschaft ein wenig Öl, Reis oder Nudeln erhält, erscheint Chen Neng und reist die Vorräte an sich. Wie ein Geier mit vorgestrecktem Hals läuft er mit seiner lang erwarteten Beute davon. Zwischen Vater und Sohn gibt es deswegen immer wieder Streit, doch was kann der gelähmte, bettlägerige Vater schon gegen seinen kräftigen Sohn ausrichten?


Den letzten Abschnitt seines Lebens verbringt San’er in der Pflege seiner Tochter Chen Qian. Am Tag seines Todes kommt die gesamte Dorfgemeinschaft zur Beerdigung zusammen. Gemäß den Bräuchen des Dorfs Xinmin müssen die Söhne und Töchter des Verstorbenen ein Schaf zur Beerdigung mitführen, das die Seele des Verstorbenen repräsentiert. Die Trauergäste versammeln sich vor der Trauerhalle, beten für die Seelenruhe des Verstorbenen und versuchen das Schaf dazu zu bringen, Ohren und Körper zu schütteln. Dies bedeutet, das die Seele des Verstorbenen die Segenswünsche annimmt.


Doch angesichts der Gebete der Söhne und Töchter San’ers rollt das Schaf nur mit den Augen. Um das Ritual doch noch zu einem guten Abschluss zu bringen, nimmt der Zeremonienmeister eine Schüssel kalten Wassers und gießt sie auf dem Rücken des Schafs aus. Das Schaf zittert heftig, bäumt sich auf, und läuft unter dem traurigen Klang der Suona und dem Wehklagen der Söhne und Töchter mit San’ers Seele auf dem Rücken in Richtung der Berge hinfort. Seitdem hat niemand mehr San’ers Höhlenwohnung betreten.


Gegenwärtig leben im Dorf Xinmin nur noch ungefähr 30 Menschen. Die Jüngeren verlassen das Dorf früh, um in der Stadt nach Arbeit zu suchen. Zurück bleiben die Alten, von denen die meisten zwischen 60 und 70 Jahre sind. Der älteste Mensch im Dorf ist 84 Jahre alt, während die 50-Jährigen als „jung“ gelten. Die Rüstigeren unter ihnen helfen gelegentlich den Nachbarn bei einigen Arbeiten in Haus und Hof, während die körperlich Schwächeren den ganzen Tag im Hof in der Sonne sitzen oder im Haus von Bekannten den Nachmittag verschwatzen. Früh am Abend ziehen sie sich dann bereits zum Schlafen auf ihr Kang zurück. Nach Einbruch der Dunkelheit leuchten im Dorf nur noch ein paar vereinzelte Lampen.


Unter den Dorfbewohnern, die jetzt in der Stadt leben, sind sowohl solche, die dort wegen der schulischen Ausbildung ihrer Kinder hingezogen sind als auch solche, die nach dem Ende ihres Arbeitslebens in der Stadt beschließen, sich dort langfristig niederzulassen. Überall in den Bergen sieht man reihenweise verlassene Höhlenwohnungen, in denen sich noch die Spuren des Lebens ihrer früheren Bewohner finden lassen. „Das sind alles vormalige Privatbehausungen, da kann man nichts machen. Die können wir erst abreißen, nachdem sie von der Regierung requiriert worden sind“, sagt der Parteisekretär des Dorfs.


Vielleicht verliert Xinmin auch bald seinen letzten Dorfbewohner.



 

[1] 廖泓清, 王璠瑜: 每一天,都有80个村庄消失, veröffentlicht online am 19. Februar 2021 unter https://mp.weixin.qq.com/s/5dV7U7gjrPXv8TIcHi6b5Q


[2] Das gesetzliche Heiratsalter in China liegt für Frauen bei 20 Jahren.


[3] In China ist es traditionell üblich, dass die Familie des Bräutigams eine Mitgift für die Braut zahlt. Während im ländlichen China häufig ein montärer „Brautpreis“ von der Familie des Bräutigams gezahlt wird, wird von heiratswillingen Männern in den Städten oft erwartet, dass diese mit Unterstüzung ihrer Familien eine Wohnung und ein Auto für das junge Ehepaar anschaffen.


[4] Bei Geisterhochzeiten handelt es sich um einen alten ländlichen Brauch, bei dem tote unverheiratete Frauen mit verstorbenen Junggesellen „verheiratet“ werden, um diesen ein „Eheleben“ im Jenseits zu ermöglichen. Geisterhochzeiten sind in China seit 1949 verboten. Vor allem in entlegenen Dörfern wird das Ritual jedoch noch immer praktiziert.


 

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