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  • Michaela Boehme

Wettbewerb der Systeme


Chen Ping
© Zhi Hu | Chen Ping

 

Chen Ping, "Chinas wirtschaftlicher Erfolg entlarvt den Mythos der westlichen Marktwirtschaft" [1]

Übersetzt von Michaela Böhme

 

Anmerkungen zum Text


Die Corona-Pandemie der letzten anderthalb Jahre hat den systemischen Wettbewerb zwischen China und dem Westen weiter angeheizt. Die erfolgreiche Eindämmung der Pandemie im eigenen Land und die schnelle wirtschaftliche Erholung haben viele Chinesinnen und Chinesen mit Stolz erfüllt und das bereits seit vielen Jahren wachsende nationale Selbstbewusstsein des Landes weiter wachsen lassen. Dem gegenüber steht eine westliche Staatengemeinschaft, deren Pandemiemanagement in China als ineffizient und deren Gesellschaften als tief gespalten wahrgenommen werden.


Seit Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping mit seinem Machtantritt in 2012 die seit Deng Xiaoping geltende Strategie des taoguang yanghui – „verbirg deine Macht und spiele auf Zeit“ – durch eine neue Ära der selbstbewussten Großmachtdiplomatie abgelöst hat, mehren sich auch in den intellektuellen Kreisen des Landes die Stimmen derer, die das chinesische Gesellschafts- und Entwicklungsmodell offensiv verteidigen und dessen Stärken gegenüber den zunehmend als defizitär wahrgenommenen liberalen Marktwirtschaften des Westens hervorheben.


Chen Ping, ehemaliger Professor für Wirtschaftswissenschaften an der National School of Development der Peking Universität sowie Senior Research Fellow am China Institute der Fudan Universität in Shanghai, ist einer der prominentesten patriotischen Meinungsführer des Landes und ein offensiver Vertreter des „China-Modells“. Als ausgebildeter Physiker mit einem Doktortitel der Universität Texas, Austin, lehrt und forscht Chen Ping seit den späten 1990er Jahren zu einem bemerkenswert breiten Spektrum wirtschaftswissenschaftlicher Themen – von Finanzökonomie zu wirtschaftspolitischen Institutionen bis hin zu Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte.


Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit verfügt Chen Ping über eine starke Präsenz in den sozialen Medien Chinas, wo er über einen steten Strom an Videos und Kommentaren seine auf das heimische Laienpublikum ausgerichteten Analysen des chinesischen Modells in die Öffentlichkeit trägt. Auf der Online-Newsseite Guancha, auf der das hier präsentierte Interview erschienen ist und die auch anderen bekannten Vertretern des neuen chinesische Nationalismus wie Zhang Weiwei eine Plattform bietet, meldet er sich regelmäßig mit Beiträgen zum systemischen Wettbewerb zwischen China und dem Westen zu Wort.


Chen Pings Kritik entzündet sich besonders an der aus den USA stammenden neoliberalen Wirtschaftsdoktrin und ihrem Einfluss auf die internationale (Wirtschafts-)Ordnung. Aus Sicht Chen Pings führt das neoliberale Entwicklungsmodell des Westens nicht nur zu einer ungerechten Machtverteilung auf internationaler Ebene sondern verstärkt durch die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich auch die Polarisierung der westlichen Gesellschaften selbst. Dies unterminiere letztendlich die demokratischen Institutionen und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Westens, so der Ökonom.


Der Erfolg des chinesischen Modells zeichne sich hingegen durch die innovative Verquickung marktwirtschaftlicher Elemente mit staatlich gelenkter Verteilungs- und Industriepolitik aus. Damit sei China in der Lage, nicht nur langfristig Wachstum und gesellschaftliche Stabilität zu sichern, sondern auch in Krisensituationen wie die Corona-Pandemie schnell und effizient zu reagieren.

Schlussendlich fordert Chen Ping die chinesische Wirtschaftswissenschaften dazu auf, aus den Erfahrungen des chinesischen Reform- und Transformationsprozesses eine eigene Wirtschaftstheorie zu entwickeln und diese selbstbewusst neben den gängigen ökonomischen Theorien des Westens zu etablieren.


Auch wenn einige Kritikpunkte nicht von der Hand zu weisen sind, ist Chen Pings Analyse doch an vielen Stellen polemisierend und stark verkürzt. Gleichzeitig werden die Widersprüche und Spannungen, mit denen sich das chinesische Entwicklungsmodell im eigenen Land konfrontiert sieht, systematisch ausgeblendet. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, Chinas Reformpolitik selbst zu massiver gesellschaftlicher Ungleichheit innerhalb Chinas geführt – auch wenn sich das daraus erwachsende soziale Konfliktpotential aktuell noch durch das Versprechen auf kontinuierliches Wirtschaftswachstum in Schach halten lassen mag.


Generell lässt sich bei den öffentlichen Interventionen Chen Pings ohnehin schwer sagen, inwieweit es sich um seriöse Kritik oder politischen Opportunismus handelt. So wurde vor Kurzem bekannt, dass Chen Ping selbst die meiste Zeit des Jahres in seinem in einer wohlsituierten Nachbarschaft gelegenen Haus in Texas verbringt – eine Enthüllung, die von chinesischen Social-Media-Nutzern bissig mit dem Spruch kommentiert wurde: „Die USA zum Leben, USA-Bashing zum Geldverdienen“.


Fest steht: In Zeiten einer zunehmenden Polarisierung hat undifferenzierte USA-Kritik in China genauso Konjunktur, wie undifferenzierte China-Kritik hierzulande.


 

"Chinas wirtschaftlicher Erfolg entlarvt den Mythos der westlichen Marktwirtschaft"

Ausschnitt eines Interviews der Online-Newsseite Guancha mit Professor Chen Ping


2020 hat China erfolgreich das Corona-Virus bekämpft, Chinas Wirtschaft ist entgegen des weltweiten Trends gewachsen und das Bruttoinlandsprodukt hat zum ersten Mal die Marke von 100 Billionen Yuan überschritten. Im Westen haben sich stattdessen unter dem Einfluss der Corona-Pandemie Phänomene wie die zunehmende Polarisierung von Arm und Reich, das Versagen der Märkte sowie ein Mangel an Regierungsfähigkeit verstärkt. Inwiefern spiegeln sich darin die Merkmale der unterschiedlichen Wirtschaftssysteme Chinas und des Westens wieder? Dazu sprach Guancha mit Professor Chen Ping vom China Research Institute der Fudan Universität in Shanghai.


Guancha: Der Neoliberalismus, wie er von den USA vertreten wird, betont immer wieder den sogenannten „Freihandel“. Sie haben bereits früher darauf hingewiesen, dass sich die Macht der USA nicht unbedingt aus dem „Freihandel“ speist, sondern auf verschiedenen wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Faktoren beruht. Wo also bleibt die Freiheit beim sogenannten „Freihandel“?


Chen Ping: Erstens, Freihandel ist vor allem ein Propagandabegriff des westlichen Kolonialismus und Imperialismus. Vom Aufstieg Venedigs als Seemacht des Mittelmeers im Mittelalter bis hin zu den vom Westen dominierten vier Globalisierungswellen hat der Begriff Freihandel immer vor allem die Freiheit bezeichnet, kolonialisierte Länder und ihre Bevölkerungen ausplündern zu können.


Wenn sie in ihrer Wettbewerbsfähigkeit anderen überlegen sind, rufen diese Länder laut nach Freihandel. Sobald sie aber ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren, betreiben sie Protektionismus oder machen gar Gebrauch von direkter Gewalt oder inszenieren einen Putsch, um Konkurrenten auszuschalten. Das wird auch aus der Geschichte heraus ersichtlich. Nehmen wir zum Beispiel England, welches als erstes den Freihandel gefordert hat. Wenn England einen Handelsüberschuss hat, wenn das Militär (insbesondere die Marine) und das Finanzwesen dominieren, fördert England den Freihandel. Wenn diese Voraussetzungen jedoch nicht gegeben sind, handelt das Land protektionistisch.


Ein zweites Beispiel. Als die Vereinigten Staaten in den 70er Jahren damit begannen, Handelsdefizite einzufahren, warfen sie Handelspartnern mit Handelsüberschüssen wie Japan und Deutschland unfaire Handelspraktiken vorwarfen. Geschichtlich gesehen dreht es sich beim „Freihandel“ Englands und der USA vor allem darum, ungehinderten Zugang zu anderen Ländern zu haben. Wenn andere Länder dann ihrerseits Zugang zum amerikanischen Markt wollen, sehen sie sich allerlei rechtlichen Beschränkungen gegenüber.


Unter dem kapitalistischen System ist es unmöglich, einen gleichberechtigten freien Handel und eine friedliche Entwicklung zu verwirklichen.

Zweitens, die Befürworter des Freihandels sehen nur dessen Vorteile für die wirtschaftlich Starken. Dass dafür ein Preis zu zahlen ist, übersehen sie. Zum einen führen die aus dem Handelsmonopol resultierenden enormen Gewinne der jeweils führenden Mächte dazu, dass es zu einem kräftezehrenden Wettbewerb mit konkurrierenden Staaten kommt. Zum anderen schaffen die riesigen Profite eine Klasse an Profiteuren, die ihre Eigeninteressen verfolgt und damit letztendlich die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Hegemonialmacht schwächt.


Daher kann die Hegemonie einer Handelsmacht auch nie von Dauer sein. Der Mythos vom Nutzen des Freihandels steigt und fällt denn auch mit dem Auf- und Abstieg der jeweiligen Hegemonialmächte. Da die Aushandlung der internationalen Arbeitsteilung auf der Nutzung von Größen- und Effizienzvorteilen beruht, führt dies unweigerlich zu monopolistischer Konkurrenz. Unter dem kapitalistischen System ist es unmöglich, einen gleichberechtigten freien Handel und eine friedliche Entwicklung zu verwirklichen.


Guancha: Durch die Corona-Pandemie haben sich die Schwächen des westlichen Wirtschaftssystems noch verstärkt, wie zum Beispiel die Kluft zwischen Arm und Reich oder das Versagen der Märkte. Warum ist die Fähigkeit des Westens, mit solchen Ausnahmesituationen umgehen zu können, relativ gering ausgeprägt?


Chen Ping: Die Fähigkeit des Westens, auf den Ausnahmezustand zu reagieren, ist seit jeher geringer ausgeprägt als die sozialistischer Systeme oder zentralistischer Territorialstaaten.


[…]


In Friedenszeiten befördert das westliche System die ausgewogene und stetige Entwicklung der verschiedenen sozio-ökonomischen Aspekte einer Gesellschaft. Das Zusammenspiel zwischen Regierung, Wirtschaftsvertretern und Gewerkschaften muss den Interessenausgleich zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, bürgerlichen Rechten und der demokratischen Kontrolle der Regierung sicherstellen, doch dieser Interessenausgleich ist angesichts der Corona-Pandemie aus dem Gleichgewicht gekommen. So hat zum Beispiel die Corona-Krise in den USA die Regierungen einzelner Bundesstaaten in Konflikt mit der Nationalregierung gebracht. Private Unternehmen haben die Krise ausgenutzt, um im Ausland hohe Gewinne zu erzielen, dabei jedoch die heimische Verfügbarkeit von Impfstoffen gefährdet. Dies zeigt, dass es für parlamentarische Systeme weitaus schwieriger ist, interne Konflikte zu koordinieren als für sozialistische Staaten.


Guancha: Lassen Sie uns noch einmal auf die Vereinigten Staaten zurückkommen. Während der letzten Präsidentschaftswahl und der Machtübergabe kam es zu einer sogenannten „Krise der Demokratie“ [2]. Diese Krise steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Rezession in den USA und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Wie bewerten Sie das unter der Reagan-Regierung eingeführte neoliberale Wirtschaftssystem, und zu welchen Problemen hat dieses System im Laufe der Zeit geführt?


Chen Ping: Das Ziel der neoliberalen Politik bestand darin, den nach der Weltwirtschaftskrise etablierten Keynesianismus und den unter Präsident Roosevelt eingeführten New Deal rückgängig zu machen. Die Verkleinerung des Staatshaushalts im Namen von Steuersenkungen sowie drastische Kürzungen bei den Sozialsystemen und der öffentlichen Infrastruktur während zeitgleich das Wettrüsten zunimmt und anhaltende Kriege im Ausland zur Verteidigung der finanziellen Hegemonie des Dollars eingesetzt werden haben unweigerlich zu einer Verdrängung der Realwirtschaft durch die Finanzwirtschaft geführt. Die Folgen sind eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen unterschiedlichen Regionen im internationalen Kontext. Den dadurch immer wieder hervorgerufenen internationalen Finanzkrisen und geopolitischen Konflikte ist am Ende auch die amerikanische Wirtschaft nicht mehr gewachsen.


Um auf die in den USA eingetretene „Krise der Demokratie“ zurückzukommen: die Vertreter der chinesischen Aufklärung haben das demokratische System des Westens immer nur halb verstanden. Nehmen wir als typisches Beispiel hierfür Chen Duxius Überlegungen zur Bedeutung von Demokratie und Wissenschaft für die Modernisierung Chinas [3]. Chen Duxiu versteht Demokratie als die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, was zeigt, dass er den eigentlichen Charakter der Demokratie nicht wirklich verstanden hat.


Streng genommen zeichnet sich die parlamentarische Demokratie des Westens durch zwei Merkmale aus. Erstens, es handelt sich hierbei um repräsentative Demokratien und keine direkten Demokratien. Direkte Demokratie wie zur Zeit der Pariser Kommune oder der griechischen Stadtstaaten sind im Westen völlig undenkbar. In seinen Überlegungen zum idealen Stadtstaat war Platon einst zu dem Ergebnis gekommen, dass die Einwohnerzahl eines mittels direkter Demokratie regierten Stadtstaates nicht mehr als 1.000 Personen – und bei Berücksichtigung aller Familienmitglieder und Kinder nicht mehr als 10.000 Personen – betragen sollte, wolle man gesellschaftliche Fragmentierung und Zwietracht vermeiden. Aus diesem Grund ist die westliche Demokratie eine repräsentative Demokratie, bei der gewählte Repräsentanten im Namen der Mehrheit politische Entscheidungen fällen.


Aber die Ärmeren einer Gesellschaft - einfache Arbeiterinnen und Arbeiter sowie prekär Beschäftigte - haben keine Zeit und Energie, um sich an der Politik zu beteiligen. Bevor Reagan sein weitreichendes neoliberales Programm durchsetze, verfügten die Bürger noch über eine gewisse politische Mitsprache, aber seitdem haben arme Menschen immer weniger Möglichkeiten, Einfluss auf das politische Geschehen zu nehmen. Warum ist das so? Weil ihnen die finanziellen Mittel fehlen, sich an der Politik zu beteiligen. Die Ärmeren haben somit bereits von vorne herein verloren.


Das zweite Merkmal der westlichen Demokratie ist es, dass Milliardäre Einfluss auf Politiker nehmen, um somit ihre Interessen zu schützen oder gar persönlich in die Politik gehen. Im Zeitalter des Neoliberalismus ist die Zahl der Millionäre und Multimillionäre im US-Kongress weitaus stärker gestiegen als in der Ära des Keynesianismus.


Durch die neoliberale Politik wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Der Boden der demokratischen "Gleichheit" existiert nicht mehr und das traditionelle demokratische System ist ins Wanken gekommen.

Guancha: Deng Xiaoping hat einmal gesagt, dass der Sozialismus marktwirtschaftliche Elemente enthält ebenso wie der Kapitalismus planwirtschaftliche Elemente enthält. Sowohl der Markt als auch der Plan sind beide Mittel zur wirtschaftlichen Steuerung. Worin unterscheidet sich das planwirtschaftliche Element in einem sozialistischen gegenüber einem kapitalistischen Wirtschaftssystem?


Chen Ping: Lenins Planwirtschaft imitierte direkt westliche Kartelle und Trusts und ersetzte dabei privates Monopolkapital durch Staatseigentum. Typische Beispiele für planwirtschaftliche Institutionen in westlichen Wirtschaftssystemen sind zum Beispiel das US-Verteidigungsministerium, nationale Labore sowie staatliche Universitäten wie die amerikanischen „Land-grant Universities“. Oxford und Cambridge sind dem Namen nach private Universitäten, werden jedoch durch staatliche Subventionen gefördert. Fakultät und Studentenschaft erhalten stabile Löhne bzw. Sozialleistungen. Planwirtschaftliche Elemente machen hier einen viel höheren Anteil aus als bei der Peking-Universität und der Tsinghua-Universität in China. In Frankreich ist die Nuklearforschung in Form staatseigener Unternehmen organisiert.


In China werden größtenteils Staatsunternehmen zur Beschäftigungspolitik eingesetzt. Der Westen versucht, das Beschäftigungsproblem mit Hilfe des Sozialsystems zu lösen, etwa durch die kontinuierliche Erhöhung des Mindestlohns. Dadurch steigen die Arbeitskosten in der verarbeitenden Industrie, wodurch letztendlich die internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren geht.


Die soziale Effizienz chinesischer Staatsunternehmen ist höher als die der westlichen Sozialsysteme, und damit ist auch Chinas Wettbewerbsfähigkeit höher als die der Vereinigten Staaten und Westeuropas.

Der Unterschied zwischen den planwirtschaftlichen Elementen in einer sozialistischen und einer kapitalistischen Marktwirtschaft liegt nur im Entscheidungsmechanismus. Hinter den Institutionen der Gewaltenteilung wie Präsidentenamt, Regierung, oberster Gerichtshof oder Zentralbank stehen mächtige, sich im Wettbewerb miteinander befindende Interessengruppen. Der Rechtsstaat bekämpft die Symptome, nicht die Ursachen, seine Effizienz wird immer geringer. Auf dieser Grundlage ist der Rechtsstaat nicht in der Lage, das soziale Problem der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich zu lösen.


In China liegen politische Entscheidungen zum Beispiel bezüglicher makrofinanzieller Fragen oder der Zerschlagung von Kartellen hingegen beim Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas. China räumt der Führung der Partei Priorität ein und bemisst die Leistung seiner Lokalbeamten anhand wirtschaftlicher Indikatoren. Eine solche makroökonomische Top-Down-Politik erlaubt nicht nur eine zielgenaue Umsetzung wirtschaftspolitischer Vorgaben, sondern kann auch die negativen Externalitäten, die durch das Streben nach Wirtschaftswachstum entstehen, weitgehend eindämmen.


Guancha: Was halten Sie von der Antimonopol-Politik [4] im sozialen Marktwirtschaftssystems Chinas? Wie kann man auf dieser Grundlage eine Theorie der sozialistischen Marktwirtschaft Chinas formulieren?


Chen Ping: Chinas Antimonopol-Kampagne befindet sich noch ganz am Anfang und baut auf den Erfahrungen der Antimonopol-Politik des Westens auf. Ich finde, noch wichtiger ist es, das Geschäftsmodell der neuen Digitalmonopole unter staatliche Aufsicht zu stellen. Die Big-Data-Geschäftsmodelle solcher Firmen haben nicht nur Einfluss auf die nationale Sicherheit, sondern auch auf das Kreditsystem und die Art des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Monopolplattformen haben eine mächtige Stellung im politischen Diskurs. Die Betreiber privater Monopolplattformen nutzen Big Data, um einen übermäßigen politischen Einfluss auszuüben, davor sollten wir auf der Hut sein.


[…]


China mangelt es an einer eigenen makroökonomischen Theorie und entsprechenden Volkswirtschaftlern. Chinas Ökonomen betrachten die westliche Wirtschaftstheorie fälschlicherweise als Leitmodell mit Lehrbuchcharakter und unterscheiden nicht zwischen den konkurrierenden Ideen unterschiedlicher theoretischer Schulen. Ihre Haltung ist geprägt von unhinterfragtem Übernehmen westlicher Theorien, von Eklektizismus und Pragmatismus, was dazu führt, dass chinesische Wirtschaftswissenschaftler wenig prägenden Einfluss auf den internationalen wirtschaftstheoretischen Diskurs haben.


In der chinesischen Wirtschaftstheorie werden viele Fachbegriffe direkt aus dem Englischen übernommen. Während bei in China geprägten Begriffen wie „Neue Normalität“ (xin changtai) und „duale Zirkulation“ (shuang xunhuang) [5] marxistische Konzepte zum Einsatz kommen, ist dem Input-Output-Modell westlicher makroökonomischer Theorien der marxistische Begriff der Zirkulation fremd. Im Gegensatz zum Konzept der Zirkulation ist die „freie Beweglichkeit der Produktionsfaktoren“ ein der neoklassischen Wirtschaftstheorie entnommenes Konzept – ein Hirngespinst der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, das es in Wirklichkeit gar nicht geben kann, da die Faktormobilität in allen Wirtschaftssystemen begrenzt ist und niemals vollkommen frei sein kann. Auch bezüglich der „Globalisierung“ und „Urbanisierung“ von Chinas sozialistischer Marktwirtschaft sollte China seine eigenen Standards definieren.


Guancha: Im 14. Fünfjahresplan Chinas ist vom Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft mit „hohen Standards“ die Rede? Was ist darunter zu verstehen, und wie soll dies gelingen?


Chen Ping: Unter dem Begriff werden meist ganz unterschiedliche Dinge verstanden. Die Europäer betonen hier umwelt- und arbeitspolitische Standards. Die im Handelskrieg von den USA aufgestellten Standards zielen vor allem auf die Einhegung chinesischer Staatsunternehmen und ein Infragestellen der chinesischen Industriepolitik. China geht es eher um die Aushandlung eines neuen Regelwerks für den Handel zwischen verschiedenen „Freihandelszonen“.


[…]


Das einseitige Streben nach Wirtschaftswachstum und der einseitige Fokus auf Indikatoren wie das Pro-Kopf-BIP entsprechen nicht dem wahren gesellschaftlichen Anspruch der Menschen, in Frieden und Zufriedenheit zu leben und zu arbeiten. Chinas Wirtschaftswissenschaftler müssen überlegen, welche „Standards“ für Chinas aktuelle Situation am erstrebenswertesten sind. Einfach nur Wirtschaftsindikatoren aus westlichen Lehrbüchern übernehmen, ist nicht genug. Die Wirtschaftspolitik muss den innen- und außenwirtschaftlichen Verhältnisse Chinas entsprechen und darf nicht nur leeres Gerede sein.


[…]


Früher haben wir uns am liberalen Marktmodell der USA orientiert. Heute, wo die Übel dieses Systems immer deutlicher zutage treten, sollten wir uns meiner Meinung nach eher am deutschen Modell orientieren.

Denn das deutsche Modells der sozialen Marktwirtschaft zeigt, wie sich sowohl kurz- als auch langfristig ein Ausgleich der Interessen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Stadt und Land erreichen lässt. Einerseits brauchen wir die Kräfte des Marktes, um Ressourcen effizient zu verteilen und wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand zu erzeugen. Andererseits muss eine gerechte Verteilung zwischen Kapital und Arbeit gewährleistet werden, um einen gesellschaftlichen Ausgleich herzustellen.


 

[1] 陈平, 戳破西方“市场经济”神话,中国经济交出亮眼答卷, veröffentlicht online am 02.03.2021 auf dem Online-News-Portal Guancha (观察者网) unter https://www.guancha.cn/chenping1/2021_03_02_582696_s.shtml


[2] Diese Frage bezieht sich auf den sogenannten Sturm auf das Kapitol, bei dem am 07.01.2021 eine Gruppe von Trump-Anhängern in den US-Kongress eingedrungen war, um ihre Missbilligung zur Wahl Joe Bidens als neuer amerikanischer Präsident zum Ausdruck zu bringen. Dieses Ereignis wurde auch in westlichen Medien vielfach als Krise der amerikanischen Demokratie und Gesellschaft interpretiert.


[3] Als Wissenschaftler, Publizist und einflussreicher Aktivist in Chinas „Neue-Kultur-Bewegung“ der frühen 20er Jahre setzte sich Chen Duxiu für eine Modernisierung Chinas nach westlichem Modell ein. So ruft Chen Duxiu in seinen Schriften dazu auf, die konfuzianischen Traditionen des nachkaiserlichen Chinas durch Wissenschaft und Demokratie zu ersetzen.


[4] Dies bezieht sich auf die Entscheidung der chinesischen Regierung, den Börsengang der Ant Financial Group – einer Tochterfirma des chinesischen Internetkonzerns Alibaba – zu untersagen, um somit die wachsende Marktmacht der privaten Internetriesen zu beschneiden.


[5] Während das „Neue Normal“ seit 2017 ein auf Qualität fokussiertes Wirtschaftswachstum im nunmehr nur noch einstelligen Bereich bezeichnet, gewann der Begriff der „dualen Zirkulation“ im Zuge des Wirtschaftsschocks der Corona-Pandemie an Bedeutung. So bezeichnet letzterer denn eine Zwei-Kreislaufwirtschaft, bei der der chinesische Binnenmarkt im Zentrum des Wirtschaftswachstums steht, gleichzeitig jedoch Synergien zwischen Binnen- und Außenwirtschaft gefördert werden sollen. Ziel dieser Strategie ist es, die chinesische Wirtschaft vor externen Schocks zu schützen, gleichzeitig jedoch weiterhin an der wirtschaftlichen Globalisierung zu partizipieren und von dieser zu profitieren.


 

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