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Das Ende der Globalisierung?

Michaela Boehme

Wang Huiyao während einer Veranstaltung des Center for China and Globalization
© CCG | Wang Huiyao während einer Veranstaltung des Center for China and Globalization

 

Wang Huiyao: Die Globalisierung ist nicht tot, sie ist nur nicht mehr amerikanisch [1]

Übersetzt von Michaela Böhme

 

Anmerkungen zum Text


Geopolitische Spannungen, Chaos in den globalen Lieferketten und der schwindende Einfluss globaler Institutionen haben manchen zu der Annahme verleitet, dass sich unsere globale Welt zunehmend entflechtet. Eine neuen Phase des Protektionismus und der Blockkonfrontation, so die weit verbreitete Meinung, stehe bevor.


Doch für Wang Huiyao sind solche Abgesänge auf die Globalisierung deutlich verfrüht. In dem hier vorgestellten Meinungsartikel argumentiert der Wirtschaftswissenschaftler, dass die wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen zwischen einzelnen Nationalstaaten und Regionen stärker denn je seien, nur sei der Westen unter der Führung der USA nicht mehr länger Zentrum und Ausgangspunkt dieser Verflechtungen, sondern der asiatische Raum. Mit dieser Machtverschiebung gehe auch ein neuer Modus der Globalisierung einher: anstelle unregulierter Kapitalflüsse und globaler Konzerne träten nun vermehrt Staaten auf den Plan, die Globalisierungsprozesse gemäß ihrer eigenen Interessen lenkten, so Wang.


Wang Huiyao ist Präsident und Mitbegründer des 2008 ins Leben gerufenen Center for China and Globalization (CCG) – einer Pekinger Denkfabrik, die aus chinesischer Perspektive neue Ansätze, Modelle und Theorien zur Globalisierung entwickelt, ohne dabei jedoch ihre Anschlussfähigkeit an die Debatten westlicher Wissenschaftseinrichtungen zu verlieren. So sind mit Personen wie Kerry Brown, Peter Nolan oder Edmund Phelps denn auch immer wieder bekannte China-Wissenschaftler und -Wissenschaftlerinnen aus dem anglophonen Sprach- und Denkraum an Projekten des CCG beteiligt.


Anders als die bereits auf diesem Blog porträtierten Intellektuellen Zhang Weiwei und Chen Ping argumentiert Wang nicht für einen nationalistisch geprägten Exzeptionalismus Chinas, sondern betont die Notwendigkeit, Lösungen zu finden, die in einer multipolaren Welt den Interessen und kulturell-politischen Besonderheiten unterschiedlicher Nationalstaaten und Weltregionen Rechnung tragen.


Wang Huiyao ist ein offensiver Vertreter einer neuen Form der Kooperation zwischen China und dem Westen, einer Meinung, die er sowohl in englischsprachigen Medien als auch auf chinesischen Plattformen wie Aisixiang immer wieder deutlich macht. Angesichts globaler Krisen wie des Klimawandels und gesundheitlicher Herausforderungen wie weltumspannender Pandemien sei Zusammenarbeit, nicht Entkopplung, das Gebot der Stunde, so Wang.


Der hier vorgestellte Artikel ist sowohl in chinesischer Sprache auf Wang Huiyaos Blog als auch auf Englisch in der Washington Post erschienen.


 

"Die Globalisierung ist nicht tot, sie ist nur nicht mehr amerikanisch"

von Wang Huiyao


Zuerst kam die Finanzkrise. Dann der Brexit und die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten. Dann der Handelskrieg zwischen China und den USA, danach die Corona-Pandemie. Der Krieg in der Ukraine ist nur das jüngste in einer Reihe von Ereignissen, die der Behauptung Vorschub geleistet haben, die Globalisierung sei am Ende.


Seit dem Krieg Russlands in der Ukraine hört man von Zeitungskolumnisten bis hin zu Wall-Street-Größen wie BlackRock-Chef Laurence Fink und Oaktree Capital Group Mitbegründer Howard Marks, dass die Ära der expandierenden globalen Handels- und Finanzbeziehungen vorbei sei. Doch solche Behauptungen stimmen nicht mit der empirischen Realität überein, die viele von uns sehen, insbesondere in Asien.


Im Gegenteil, es scheint, dass unsere Welt immer stärker vernetzt ist. Im vergangenen Jahr erreichte der Welthandel einen Rekordwert von 28,5 Billionen US-Dollar, 25 Prozent mehr als im Vorjahr und eine Steigerung von 13 Prozent gegenüber 2019, also vor dem Ausbruch der Pandemie. Trotz des ganzen Geredes über die Entkopplung ist der Handel zwischen den USA und China im vergangenen Jahr um mehr als 20 Prozent auf 687,2 Mrd. USD gestiegen. Trotz des Krieges in der Ukraine wird für 2022 ein Wachstum des Welthandels prognostiziert, wenn auch in geringerem Tempo.


Auch die grenzüberschreitenden Investitionen übertrafen im vergangenen Jahr mit 1,65 Billionen Dollar das Niveau vor der Pandemie. Vor allem China ist mehr denn je in die Weltwirtschaft integriert. Im Jahr 2021 stiegen die Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen um ein Drittel auf ein Allzeithoch von 334 Milliarden Dollar. Im ersten Quartal dieses Jahres stiegen sie im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 25 Prozent.


Der Reiseverkehr hat sich langsamer erholt, und der Anteil des internationalen Handels am weltweiten BIP ist seit seinem Höchststand im Jahr 2008 zurückgegangen. Gleichzeitig entwickelt sich die Globalisierung weiter und nimmt auch in anderen, nicht-physischen Dimensionen stark zu.


Der monatliche weltweite Datenverkehr ist während der Pandemie sprunghaft angestiegen und wird Prognosen zufolge bis 2026 780 Exabyte erreichen, was mehr als einer Verdreifachung gegenüber 2020 entspricht. Jeden Tag kommen eine halbe Million neuer Internetnutzer hinzu.


Wir sind mehr denn je in eine globale Sphäre von Bildern und Ideen eingetaucht. Milliarden von Menschen verfolgen über Satellitenbilder und Livestreams von Zivilisten und Soldaten, was der New Yorker als "den ersten TikTok-Krieg" bezeichnet hat. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskiy hat sich die Technologien der digitalen Globalisierung zunutze gemacht, die Welt mit Selfie-Videos in seinen Bann gezogen und per Zoom vor mehreren nationalen Parlamenten gesprochen – etwas, das vor der Pandemie nur schwer vorstellbar gewesen wäre.


Doch warum glauben dann so viele Experten, dass die Globalisierung im Sterben liegt? Dies mag zum Teil daran liegen, dass ihr analytischer Fokus auf einer US-zentrierten, neoliberalen Vorstellung der Globalisierung liegt, wie sie sich nach dem Kalten Krieg durchgesetzt hatte.


Eines ihrer zentralen Elemente ist das, was der Kolumnist der New York Times, David Brooks, als "Konvergenzglobalisierung" bezeichnet – die Vorstellung, dass die verschiedenen Länder der Welt mit zunehmender Globalisierung und Entwicklung "mehr wie wir im Westen" werden würden.


In Wirklichkeit, so sagen die Wissenschaftler Heather Berry, Mauro F. Guillén und Arun S. Hendi in einer von Brooks zitierten Studie, "haben sich die Nationalstaaten im letzten halben Jahrhundert in einer Reihe von Dimensionen nicht wesentlich einander angenähert bzw. angeglichen." Die Globalisierung habe nicht zu einer Amerikanisierung der Welt geführt.


Im Gegenteil, die Globalisierung wird immer weniger amerikanisch und dafür immer mehr global.

Während die USA vor dem Jahr 2000 an der Spitze des Welthandels standen, treiben heute zwei Drittel der Länder mehr Handel mit China. Seit Trump dem Freihandelsabkommen TPP und der Welthandelsorganisation den Rücken gekehrt hat, hat sich der Schwerpunkt der multilateralen Handelsliberalisierung nach Asien verlagert.


Im globalen Finanzwesen ist der Dollar zwar nach wie vor die dominierende Währung, doch sein Anteil an den weltweiten Währungsreserven ist von 70 Prozent im Jahr 2000 auf 59 Prozent im Jahr 2020 gesunken. Die Sanktionen beschleunigen die Bemühungen Russlands und anderer Länder, Alternativen zum US-Dollar und zum SWIFT-Interbanken-Nachrichtensystem zu entwickeln.


Im kulturellen Bereich sieht sich die amerikanische Popkultur einer wachsenden Konkurrenz durch Alternativen wie Bollywood, K-Pop und türkische Seifenopern gegenüber. Im vergangenen Jahr kamen die meistverkaufte Band (BTS) und die beliebteste Sendung auf Netflix (Squid Game) aus Südkorea, während die weltweit am häufigsten heruntergeladene App (TikTok) und der größte Modehändler (Shein) in China beheimatet sind. Die globalen Ströme nehmen also weiter zu, nur fließen sie jetzt relativ gesehen weniger über Washington, Wall Street und Hollywood.


Die zweite neoliberale Annahme über die Globalisierung, die durch den Krieg in der Ukraine erschüttert wurde, ist der Glaube, dass die Marktliberalisierung einen positiven Kreislauf aus Frieden, Wohlstand und Offenheit in Gang setzen würde, der die wirtschaftlichen Interessen der Staaten so weit miteinander verflechten würde, dass Konflikte zwischen ihnen undenkbar würden.

Diese Vorstellung ist nicht völlig falsch. Aber sie verkennt, dass Konnektivität ein zweischneidiges Schwert ist, bei dem es um mehr als nur rein wirtschaftliche Interessen geht.


Wie Mark Leonard in "The Age of Unpeace" schreibt, wird immer deutlicher, dass Verbindungen, die die Welt zusammengeschweißt haben – vom Handel bis zur Migration, vom globalen Finanzwesen bis zum Internet – auch als Waffe eingesetzt werden und zu einer Quelle von Konflikten werden können.


Regierungen weltweit achten nun verstärkt darauf, wie die Globalisierung die nationale Sicherheit, die Interessen der Bürger und die Umwelt bedrohen kann. Um diese Risiken abzumildern und die Globalisierung schmackhafter zu machen, gehen viele von einer Laissez-faire-Politik im Stile Washingtons zu einem aktiveren Ansatz der "gesteuerten Globalisierung" über.


Die Europäische Union ist in dieser Hinsicht ein Vorreiter und hat neue Regeln für den grenzüberschreitenden Warenverkehr erlassen, wie z. B. die Datenschutz-Grundverordung und das bevorstehende CO2-Grenzausgleichssystem. Chinas Modell der "zwei Kreisläufe" kann als eine Form der gesteuerten Globalisierung betrachtet werden, die darauf abzielt, die Vorteile der Globalisierung zu nutzen und gleichzeitig die Anfälligkeit für externe Unsicherheiten zu verringern. Selbst die USA drängen auf proaktivere Maßnahmen zur Steuerung transnationaler Ströme, wie etwa eine globale Mindeststeuer für multinationale Unternehmen.


Dies ist ein Zeichen für eine maßvollere Herangehensweise an die Globalisierung, die die langfristige Belastbarkeit und die politischen Realitäten berücksichtigt, und nicht für einen völligen Rückzug in die Autarkie. Wir sind in eine Phase der globalen Integration eingetreten, die von neuen Kräften angetrieben wird und die vielfältiger und kontrollierter sein wird als die vorangegangene. Das muss nicht unbedingt schlecht sein.


 

[1] 王辉耀, 全球化没有消亡,只是不再美国化, veröffentlicht online am 07.05.2022 auf Wang Huiyaos Blog unter http://wanghuiyao.com/archives/1765



 


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