Zhang Wei: Der Zusammenbruch Evergrandes. Ein Wohnungskäufer setzt sich zur Wehr [1]
Übersetzt von Michaela Böhme
Anmerkungen zum Text
Wo man auch hinschaut in den chinesischen Medien: Berichte über protestierende Wohnungskäufer, unfertige Gebäude und wankende Immobilienriesen bestimmen die öffentliche Debatte. Denn Chinas Immobiliensektor steckt in einer ernsten Krise.
Dabei war die Branche einst das Zugpferd der chinesischen Wirtschaft. Der Boom auf dem Wohnungsmarkt brachte Bauunternehmen und Immobilienkonzernen horrende Gewinne ein, Lokalregierungen füllten ihre Kassen mit verlässlichen Einkünften aus dem Verkauf von Bauland und Wohnungsbesitzer, die früh genug eingestiegen waren, profitierten von stetig steigenden Preisen auf dem Immobilienmarkt. Wer in Eigentumswohnungen investiert, besitzt Betongold, hieß es damals.
Doch die Gefahr einer Überhitzung der Branche ließ die Zentralregierung 2021 strengere Regeln einführen. Drei „rote Linien“ sollten Bauunternehmen Grenzen für die Kreditaufnahme setzen, um so Spekulation und Überangebot vorzubeugen.
Die neuen Regeln griffen, doch möglicherweise härter als erwartet. Im September 2021 meldet Evergrande – eines der größten Unternehmen der chinesischen Immobilienbranche –Zahlungsschwierigkeiten an. Der Konzern hatte alle drei „roten Linien“ der Regierung gerissen, was zu einem Verbot der Aufnahme weiterer Schulden und damit zu Zahlungsschwierigkeiten führte.
Durch den Zahlungsausfall geraten nun weitere Unternehmen der Branche unter Druck. Die Krise droht, sich zu einem Flächenbrand auszuweiten. Seit zehn Monaten sind die Immobilienpreise im Sinkflug, so das Nationale Statistikamt, und auch der Verkauf von Eigenheimen sei rückläufig. Verschärft wird die Lage noch durch die wirtschaftliche Verschlechterung und Unsicherheit, die sowohl bei den Bürgerinnen und Bürgern als auch bei den Unternehmen durch die strikte Null-Covid-Strategie Pekings ausgelöst wurde.
Während sich die Zentralregierung um eine geordnete Abwicklung der betroffenen Immobilienkonzerne bemüht, ist die Sorge unter der Normalbevölkerung groß. Viele Käufer, die noch letztes Jahr zu überhöhten Preisen eingestiegen sind, sehen den Verfall des Marktes mit Sorge.
Besonders betroffen sind diejenigen, die ihre Wohnungen zwar bereits gekauft haben und Ratenzahlungen leisten, diese jedoch aufgrund nicht eingehaltener Zeitpläne der Bauunternehmen nicht beziehen können. Erst Anfang Juli hatten chinesische Wohnungskäufer von sich Reden gemacht, die ihre monatlichen Hypothekenzahlungen aus Protest eingestellt und lokale Behörden lautstark dazu aufgefordert hatten, Projektentwickler zur Fertigstellung bereits verkaufter Immobilienprojekte zu zwingen – ein oft hoffnungsloses Unterfangen, da die Entwickler meist selbst in Schwierigkeiten stecken.
Der hier vorgestellte Essay von Online-Portal Truman’s Story (真实故事计划) erzählt vom verzweifelten Kampf einer solchen Familie, deren gesamte Ersparnisse im Strudel der Ereignisse um Immobilienkonzern Evergrande unterzugehen drohen. Man erahnt den politischen Sprengstoff, den die aktuelle Krise des Immobiliensektors in sich birgt.
"Der Zusammenbruch Evergrandes: ein Wohnungskäufer setzt sich zur Wehr"
von Zhang Wei
Nach Angaben des Obersten Gerichtshofs der Volksrepublik China reichten 2021 landesweit 396 Immobilienunternehmen Insolvenz ein. Viele lokale Unternehmen im Bausektor stehen vor einer Liquiditätskrise. Für Chinesinnen und Chinesen ist der Kauf einer Wohnung ein wichtiger Moment im Leben. Doch eine Kaufentscheidung ist nicht nur ein rationales Abwägen von Vor- und Nachteilen sondern ein Glücksspiel, bei dem oftmals das gesamte Familienvermögen auf dem Spiel steht.
Im Februar letzten Jahres kaufte mein Vater mit seinen Lebensersparnissen eine Wohnung des chinesischen Immobilienkonzerns Evergrande. Nur sechs Monate später stand der Konzern vor der Pleite. Unfähig, in dieser Situation stillzusitzen und abzuwarten, beschlossen Vater und ich, den Kampf gegen den Immobilienriesen aufzunehmen.
01
Mit einem halben Jahr Verspätung hielt Vater den Kaufvertrag seiner Wohnung in den Händen. Im Februar 2021 hatte er eine Wohnung in seiner Heimatstadt Bengbu in der Provinz Anhui erworben. Bauherr der Wohnanlage war der Immobilienriese Evergrande. In Bengbu sind die Immobilienpreise weit weniger erschreckend als in den großen Metropolen wie Beijing, Shanghai, Shenzhen oder Hangzhou. Die Wohnung war zu einem Preis von etwas mehr als 840.000 RMB zu haben.
Gemäß der geltenden Bestimmungen, sollte uns der Kaufvertrag 30 Tage nach Eingang unserer Anzahlung erreichen, doch die Frist verstrich, ohne dass wir etwas von Evergrande gehört hätten. Jedes Mal, wenn wir mit der Maklerin sprachen, bekamen wir zu hören : „Der Vertrag ist auf dem Weg. Nächsten Monat haben Sie ihn.“
Mitte August hielten wir den Vertrag dann endlich in den Händen mit der Bitte unserer Maklerin, ihn zu unterzeichnen und zurückzusenden.
Vater war bereits über 50, als er sich zum Wohnungskauf entschloss. Für Menschen über 50 darf die Kreditlaufzeit laut Bankenverordnung nicht mehr als 15 Jahre betragen. Für meinen Vater hätte das eine monatliche Kreditrate von 4.200 RMB bedeutet, und das bei einem Monatseinkommen von nur 7.000 RMB. Für meinen Vater wäre der finanzielle Druck zu groß gewesen. Daher beschlossen wir, die Wohnung unter meinem Namen zu kaufen und eine 30-jährige Hypothek aufzunehmen, die mein Vater dann langsam zurückzahlen würde.
Da der Kaufvertrag mit einem halben Jahr Verspätung bei uns eingegangen war, hatte ich Bedenken, ob der von mir beantragte Kredit noch zu den genannten Konditionen gültig sei. Also rief ich bei der Bank an, um mich zu erkundigen.
Wer hätte vorausahnen können, welche Hiobsbotschaft uns erwarten würde. Unsere Immobilie würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht fertiggestellt werden, ließ mich ein Mitarbeiter der CITIC Bank am Telefon wissen.
Die Verzögerungen beim Abschluss der Kaufverträge habe das Bauamt auf den Plan gerufen, das eine Finanzprüfung des Immobilienkonzerns eingeleitet habe, so der Mitarbeiter. CITIC Bank würde in Zukunft keine Darlehen mehr für Immobilien von Evergrande vergeben. Die Antwort ließ durchscheinen, dass Evergrande in Finanzierungsschwierigkeiten war. Es sei fragwürdig, ob die Apartmentanlage, in der mein Vater seine Wohnung gekauft hatte, noch fertiggestellt werden würde.
Eine Wohnung in der Stadt zu besitzen, ist das Lebensziel meines Vaters. Aus seiner Sicht markiert der Erwerb einer Stadtwohnung den wichtigsten Schritt auf dem Weg in die Mittelschicht. Schon als junger Mensch gelang es ihm mit Hilfe seines Großvaters, als einer der ersten seines Dorfes von einem strohgedeckten Haus in ein richtiges Backsteinhaus zu ziehen. Obwohl sich seine wirtschaftliche Situation in den kommenden Jahrzehnten verschlechterte, beklagte sich Vater nicht.
Aus seiner Sicht war mit dem Einzug in ein gemauertes Haus der erste Schritt aus der Armut getan.
Der Besitz einer städtischen Wohnung ist für meinen Vater der nächste wichtige Schritt hin auf dem Weg zu bescheidenem Wohlstand. Um sein Gehalt aufzubessern, gab Vater nach seiner Heirat seinen Job in der Buchhaltung der Dorfverwaltung auf und schloss sich einem Geschäftsmann aus Südchina an, der mit Erdnüssen handelte – eine Entscheidung, bei der er sein gesamtes Vermögen einbüßte.
In den darauffolgenden Jahren wurde auch mein Vater zum Wanderarbeiter, über zehn Jahre arbeitete er in Wuxi. Meine Mutter und er lebten am Rande der Stadt in einer Siedlung ohne fließend Wasser, um ein paar Hundert RMB mehr im Monat sparen und sich irgendwann den Traum vom Eigenheim erfüllen zu können. Beide sparten, wo es nur ging. Wenn Mutters Schuhe kaputt waren, brachte sie sie zur Reparatur, solange bis es wirklich nicht mehr ging. Das weiße Hemd meines Vaters war vom jahrelangen Gebrauch vergilbt, doch selbst dann wollte er es nicht wegwerfen.
Als Vater 50 Jahre alt wurde, hatte er endlich genug Geld für die Anzahlung einer Hypothek zusammen. Es war die Zeit gekommen, sich den Traum von einer Wohnung in der Stadt zu erfüllen.
Von der neuen Wohnung war Vater ganz begeistert. Am Tag der Anzahlung gingen meine Vater, meine Tante und ich uns am Nachmittag noch einmal gemeinsam das Musterhaus ansehen. Auf dem Baugelände zeigte er stolz auf die im Bau befindliche Apartmentanlage: „Da ist sie, unsere Wohnung. Gebäude 16, Nummer 606.“
Dass sich die Wohnung, auf die er so stolz war, ein halbes Jahr später zum heißen Eisen werden würde, hätte er da wohl noch nicht gedacht.
02
Dass unsere Bank nicht mehr mit Evergrande zusammenarbeitet, hat eine Vorgeschichte. Bereits im Juli 2021 friert die China Guangfa Bank Bankeinlagen von Evergrande in Höhe von 132 Millionen Renminbi ein. Die Nachricht, dass Evergrande in einer tiefen Schuldenkrise steckt, verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter den Banken, und viele kündigten ihre Zusammenarbeit mit dem Konzern auf.
Im August 2021 hatte sich die Anzahl der Banken, die noch Darlehen für Immobilien von Evergrande vergaben, von einem Dutzend auf drei reduziert. Unsere Maklerin rät uns, zu einem der wenigen verbleibenden Geldinstitute zu gehen und dort einen Kredit aufzunehmen. Doch ich habe Sorgen, dass wir am Ende auf einer unfertigen Wohnung sitzen bleiben. Gemeinsam mit meinem Vater beschließen wir, vom Kaufvertrag zurückzutreten.
Dies ist das erste Mal seit Abschluss des Kaufvertrags, dass wir in das Maklerbüro zurückkehren. Im Büro lungern einige Mitarbeiter herum. Sie würdigen uns kaum eines Blicks als wir das Büro betreten und vertiefen sich sofort wieder in ihre Handys. Mit der geschäftigen Atmosphäre sechs Monate zuvor hat das nur noch wenig zu tun.
Wir nehmen in der Lobby platzt und warten auf unsere Maklerin. Erst nachdem ich sie drei Mal angerufen habe, bequemt sie sich aus ihrem Büro. Sobald sie meinen Vater und mich sieht, runzelt sie die Stirn und sagt mit gepresster Stimme: „Tut mir Leid, aber aus dem Vertrag können Sie wirklich nicht einfach so aussteigen.“
Grundsätzlich sein ein Rücktritt vom Kaufvertrag zwar möglich, aber der Prozess würde mindestens ein halbes Jahr dauern. Und bis alle Anträge gestellt und das Geld auf dem Konto gutgeschrieben sei, müssten wir mit zweieinhalb Jahren rechnen. Außerdem falle eine Vertragsstrafe von zehn Prozent des Kaufpreises an.
Nach einer Stunde verlassen wir das Büro unverrichteter Dinge. Vater steuert direkt auf das Baugelände zu, wo seine Wohnung entstehen sollte, doch der Wachmann will ihn nicht hineinlassen, wegen Bauarbeiten, so die Begründung.
Ich beeile mich, ein Taxi zu rufen und ziehe meinen Vater mit mir mit. Auf dem Weg aus der Stadt erhaschen wir von der Brücke aus noch einen Blick auf das Baugelände. Mehr als ein Dutzend unvollendeter Apartmentblocks sind zu sehen, davor ein Gewirr an gelben Kränen. Der Boden ist mit grünen Staubfangnetzen bedeckt und ein Stahlträger ragt einsam in die Luft, während dichter Regen vom trüben Himmel fällt.
Der Taxifahrer will uns in ein Gespräch verwickeln: “Ihr seid gekommen, um euch die Wohnblocks von Evergrande anzuschauen?“
“Ich hab sie nicht gut gesehen“, entgegnet mein Vater.
“Kein Wunder”, so der Taxifahrer, „in den letzten Monaten wurde hier kaum gearbeitet. Es sieht so aus, als ob das hier eine Bauruine bleibt.“ Vater könne von Glück reden, dass er hiermit nichts zu tun habe, so der Fahrer. Er konnte ja nicht ahnen, wie tief wir in diesem Schlamassel steckten.
03
Da wir bei der Maklerin gescheitert sind, suchen Vater und ich einen Anwalt auf, um den Vertrag juristisch anzufechten.
Nachdem wir unsere Geschichte erzählt haben, zeigt sich Rechtsanwalt Zhang optimistisch. Dies sei ein einfacher Fall. Evergrande habe zuerst gegen den Vertrag verstoßen, da uns der Kaufvertrag nicht wie vereinbart 30 Tage nach Anzahlung zugegangen sei und wir somit unsere Finanzierung bei der Bank verloren hätten.
“Heißt das, ich werde 100 Prozent meines Geldes zurückbekommen?“. Vater beugt sich auf seinem Stuhl nach vorne, die eine Hand auf dem Tisch, und sieht Anwalt Zhang mit eindringlichem Blick an.
“100-prozentige Sicherheit gibt es bei einem Gerichtsverfahren nie“, sagt Herr Zhang abwehrend und ringt sich ein Lächeln ab.
Daraufhin befindet mein Vater, dass die Anwaltsgebühr von 8.000 RMB zu hoch sei. Statt dessen ruft er Anwalt Hou, einen alten Bekannten, an. Kaum hat er erzählt, um was es geht, sagt Anwalt Hou: „Du redest doch nicht etwa von Evergrande?“
“Doch, genau die”, ruft Vater. Bei unserem Bauunternehmen Hengze Real Estate handele es sich um ein direktes Tochterunternehmen von Evergrande.
Anwalt Hou seufzt, als er das hört. „Die Klage wird nicht leicht werden,“ sagt er. Alle Klagen gegen Evergrande seien an den Gerichtshof in Guangzhou übergeben wurden, so der Anwalt. Er selbst betreue gerade einen Fall gegen Evergrande wegen Zahlungsverzug. Auch der sei jetzt vor dem Gerichtshof in Guangzhou gelandet, wie alle Klagen gegen Evergrande.
Seit die Guangfa Bank Evergrande habe auffliegen lassen, habe der Oberste Gerichthof angeordnet, die Klagen aus aller Welt, die jetzt über den Konzern hereinbrächen, in Guangzhou verhandeln zu lassen und so Evergrande dabei zu helfen, dessen Schuldenkrise zu managen.
Vater und ich sind von dieser Nachricht wie vor den Kopf gestoßen. Sollten wir uns entscheiden, gegen Evergrande zu klagen, entstehen uns jetzt viel höhere Kosten, und selbst wenn wir gewinnen sollten, hat der Konzern am Ende vielleicht keine Mittel mehr, um uns zu entschädigen. Doch ohne Klage bleibt uns nichts anderes übrig, als den Vertrag nach den Konditionen, die uns die Maklerin genannt hat, aufzulösen und dabei mehrere Zehntausend RMB an Verlusten hinzunehmen. Und ob wir die verbleibende Anzahlung überhaupt zurückbekommen, steht in den Sternen.
“Solche Klagen lassen sich normalerweise gut führen“, so Anwalt Hou,“ aber gegen Evergrande, das müssen man sich gut überlegen.“ Er schlägt meinen Vater vor, abzuwarten du zu beobachten, wie es mit Evergrande weitergeht. Solange die Wohnung auf unseren Namen registriert sei, würden wir nicht leer ausgehen, selbst wenn Evergrande Bankrott anmelden müsste.
Neufinanzierung des Kredits oder Vertragskündigung? Und wenn wir den Vertrag kündigen, sollen wir klagen oder den Vertrag unter Zahlung der Vertragsstrafe auflösen? Oder gar nichts tun und einfach abwarten?
Auf dem Heimweg suche ich auf dem Handy wie besessen nach nützlichen Informationen aber überall sehe ich nur schlechte Nachrichten. Evergrande habe „die drei roten Linien“ überschritten, die finanztechnischen Vorgaben der Regierung an Immobilienkonzerne, und versucht über den Verkauf von Immobilien zu niedrigen Preisen, seine Schulden zu bedienen. Im Internet gehen Gerüchte um, Evergrande stehen vor einem Schuldenberg in Höhe von 130 Milliarden RMB, es bestehe die Gefahr einer riesigen Finanzierungslücke … Schon seit langem redet das Internet über das Risiko im Zusammenhang mit Evergrande. Solche Nachrichten waren bereits im Umlauf, bevor wir die Wohnung gekauft haben, doch das ist damals alles unbemerkt an uns vorbeigegangen.
In einem der Posts erzählt eine Geschädigte, dass sie mit Evergrande eine Abfindungsvereinbarung getroffen habe, doch diese sei nie ausgezahlt worden. Statt dessen hätte sie jeden Monat weiter Raten zahlen müssen. Später beantragt sie eine Zwangsvollstreckung, doch die zweijährige Vollstreckungsfrist verstrich, ohne dass sie je einen Cent von Evergrande gesehen habe.
Je mehr ich lese, desto nervöser werde ich. Es scheint so mühsam, gegen Evergrande zu klagen und sein Geld zurückzubekommen. Vielleicht gehe ich doch besser zur Bank zurück und versuche eine neue Finanzierung für die Wohnung zu beantragen. Es ist ein Glücksspiel, aber vielleicht wird die Wohnung am Ende doch fertiggestellt werden.
04
Nach unserem Gespräch mit Anwalt Hou machen wir uns beide erneut auf den Weg zur Bank. Während wir noch darauf warten, mit einem Bankangestellten zu sprechen, treffen wir auf einen jungen Mann. Er bautet, eine Wohnung im selben Gebäude wie dem unsrigen gekauft zu haben. Da sein monatliches Einkommen weniger als die Hälfte der zu zahlenden Raten betrage, habe er sich von einem Immobilienmakler einen gefälschten Einkommensbescheid ausstellen lassen, um damit bei der CITIC Bank einen Kredit zu beantragen. Doch CITIC arbeite nicht mehr mit Evergrande zusammen, daher sei er hierhergekommen.
Er erzählt uns, dass er auf diese Wohnung seine gesamten Ersparnisse und die seiner Eltern gesetzt hat und er es unbedingt mit einem neuen Kredit versuchen wolle. Gerade eben habe er sich mit Hilfe des Maklers einen gefälschten Kontoauszug ausgestellt und wolle nun nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten schauen.
“Weißt du nicht, dass Evergrande kurz vor der Pleite steht?“, frage ich.
“Pleite? Welche Pleite?” Er strafft seinen Rücken und macht große Augen. Es ist ein heißer Tag im August und die Schweißperlen stehen im auf der Stirn.
Wie wir auch wusste er beim Kauf der Wohnung nichts von den Schwierigkeiten, in denen Evergrande, einst Chinas führendes Immobilienunternehmen, steckte. „Vielleicht hat Evergrande jetzt nicht mehr genügend Geld, um die restlichen Wohnungen fertigzubauen. Hast du nicht gesehen, dass auf der Baustelle alles still steht?“, frage ich ihn.
Der junge Mann war fassungslos. „Klar“, rief er und schlug sich heftig auf die Oberschenkel. Gerade heute habe ich noch gesagt, dass alles so aussieht wie Anfang Mai, als ich das letzte Mal dort war. Aus der Hosentasche seiner staubigen Jeans zieht er sein Handy. „Ich frage meine Eltern, was wir jetzt machen sollen.“
Vater sagt mir ich solle mich da nicht reinhängen, doch der junge Mann ist ungefähr in meinem Alter mit einem von der Arbeit gebräunten Gesicht, da konnte ich einfach nicht anders, als es ihm zu sagen.
“Mein Vater sagt, die Wohnung wird nichts werden“, sagt der junge Mann nach kurzem Telefonat. Er kratzt sich am Kopf und lehnt sich zurück. „So viele Leute haben von denen Wohnungen gekauft, da kann die Regierung doch nicht einfach nichts machen.“
Wortlos sehen wir einander an.
Als die Reihe an uns ist, steht der junge Mann am Eingang. Mein Vater und ich betreten das Büro des Beraters. Gleich nach den ersten Worten teilt uns der Finanzberater unverblümt mit, dass die Bank in der aktuellen Situation keine Darlehen mehr an Evergrande-Kunden vergebe. Selbst wenn wir jetzt noch einen Kredit beantragt bekommen würden, könne es sein, dass die Gelder am Ende nicht zur Verfügung gestellt werden würden.
Er lässt nicht mit sich reden. Weiter Kredite zu vergeben sei wie eine tickende Zeitbombe, so der Berater. Ich drehe mich um, um den jungen Mann hereinzurufen, aber der ist bereits verschwunden.
Die Bank hat alle unsere Hoffnungen auf eine neue Finanzierung zerstört. Wenn wir unsere Verluste begrenzen wollen, müssen wir einen Weg finden, uns aus dem Vertrag zu klagen. Doch zuerst gilt es zu prüfen, dass Evergrande die Wohnung bereits auf unseren Namen angemeldet hat, sonst brauchen wir es mit der Klage gar nicht erst zu probieren.
Wir machen uns auf den Weg zum Grundbuchamt. Als der Sachbearbeiter hört, dass es sich um eine Wohnung von Evergrande handelt, lacht er trocken. „Alle wollen sie Wohnungen zum Schnäppchenpreis. Da kann man sich doch denken, dass bei einem solchen Preis etwas nicht in Ordnung ist.“
Trotzdem erhalten wir von ihm einige nützliche Informationen. So habe Evergrande bei dem Bauprojekt 1.400 Wohnungen verkauft, doch nur 400 davon sind bereits im Grundbuch eingetragen worden. „Die meisten stehen nicht so gut da wie ihr“, sagt er uns. „Die haben das Geld bezahlt, doch die Wohnung ist noch nicht mal auf ihren Namen eingetragen.“
Wir erzählen ihm , dass wir von der Bank gehört hätten, die Behörden hätten damit begonnen, Zahlungseingänge auf dem Konto von Evergrande zu überwachen. Bedeute das nicht, dass die Fertigstellung der Wohnungen damit garantiert sei? Der Sachbearbeiter schüttelt heftig den Kopf. „Wir haben Evergrande aufgefordert, dass von den Käufern eingezahlte Geld auf ein gesondertes Konto zu überweisen, aber wir können im Moment absolut nicht sagen, ob sie dies tun werden und wieviel Geld letztendlich auf dem Konto ankommen wird.“
Die Nachrichten aus dem Grundbuchamt lassen in uns beiden ein Gefühl der Ohnmacht aufkommen. Also ist es doch besser, die Wohnung loszuwerden? Da uns auf dem Amt keine weitere Hilfe erwartet, machen wir uns wieder auf den Weg, in der Hoffnung, vielleicht an anderer Stelle Unterstützung zu bekommen.
[…]
Ich bin nach dem Tag vollkommen fertig und hocke mich direkt vor dem Grundbuchamt auf den Boden.
„Was jetzt?“, fragt Vater.
„Wohin können wir jetzt noch gehen?“. Ich hebe den Kopf und sehe ihn an.
Er blickt zur anderen Straßenseite hinüber, wo sich ein großer Apartmentkomplex befindet. Er lässt seinen Blick über die Wohnblocks schweifen und murmelt mit finsterer Miene: „Eine so große Stadt mit so vielen Gebäuden, warum habe ich keine Wohnung verdient?“
05
Nachdem wir das Amt verlassen haben, suchen wir uns wahllos eines der Hotels am Straßenrand aus, um dort zu übernachten. Mit dem Rücken zueinander sitzen wir wortlos auf dem Bett.
Vaters Telefon klingelt in die Stille hinein. “Ist dort Herr Zhang? Hier ist Wang Qi, wir waren über WeChat in Kontakt. Haben Sie über das Darlehen nachgedacht?“, fragt die Stimme am anderen Ende der Leitung. Als ich das Wort „Darlehen“ höre setzt mein Herz einen Schlag lang aus. Was zum Teufel hat Vater vor?
Nachdem ich der Unterhaltung eine Weile zugehört hatte, wurde mir die Sache klar. Nachdem uns die Bak abgewiesen hatte, muss sich mein Vater wohl anderweitig nach Krediten umgehört haben. Wang Qi sagt, sie komme auch aus dem Heimatdorf meines Vaters in der Provinz Anhui und könne ihm helfen, sich einen Kredit über 500.000 RMB aus einem öffentlichen Fond in Wuxi zu besorgen. Sollte er in fünf Jahren nicht in der Lage sein, den Kredit samt Zinsen zu tilgen, könne sie mit einer Anschlussfinanzierung weiterhelfen.
“Die Zinsen unseres Fonds sind deutlich niedriger als die der Bank“, sagt Frau Wang. „Warum probierst du es nicht einfach?“ Vater dreht sich zu mir um und gibt mir sein Handy, ich verstünde besser, um was für einen Deal es sich hierbei handele.
Ich finde es einfach lächerlich. Von der kurzen Laufzeit des Darlehens abgesehen, können wir doch nicht auf einen Schlag einen Kredit in dieser Höhe aufnehmen. Auch wenn wir den Kredit als solches noch stemmen könnten, zusammen mit den Zinsen ist das vollkommen unmöglich. Und einen neuen Kredit aufnehmen, um den alten zu tilgen … da verbringen wir ja den Rest unseres Lebens im Schatten eines Schuldenbergs.
“Du schon wieder, immer lässt du dich auf solche Sachen ein, ohne mit uns zu reden oder die Konsequenzen zu bedenken. Am Ende müssen immer wir anderen für deine Fehler bezahlen“, schreie ich meinen Vater an. Nach diesem Tag liegen auch bei mir die Nerven blank.
Als er meine Worte hört, senkt Vater den Kopf und schlingt die Arme um seinen Körper. Mein trauriger Stimme sagt er leise: „Es tut mir Leid, bitte entschuldige.“
Mir krampft sich das Herz zusammen, als ich Vater so sehe. Diese Nacht schlafe ich nicht, und auch das Schnarchen meines Vaters hört sich nicht wie sonst an.
In der Nacht suche ich noch ganz benommen von den Ereignissen des Tages nach neuen Informationen über Evergrande. Der Post eines Anwalts in den sozialen Medien erweckt meine Aufmerksamkeit. Er sagt, trotz der Zuständigkeit des Gerichtshofs in Guangzhou, würden manche Gerichte vor Ort Klagen von Wohnungseigentümern zulassen.
Am nächsten Morgen griff ich sofort zum Hörer und rief bei unserem örtlichen Gericht an. Der Mitarbeiter sagte mir, er habe nichts davon gehört, dass alle Fälle an den Gerichtshof in Guangzhou weitergeleitet werden müssen. Wenn wir in der Lage seien die notwendigen Unterlagen beizubringen, würde sie sich den Fall genauer ansehen.
[…]
Da wir nichts mehr zu verlieren haben, entschließen wir uns, gegen Evergrande vor Gericht zu ziehen.
06
Am 25. August reichen wir bei Gericht Klage ein. Am gleichen Tag verkündet Evergrande einen Verlust von über vier Milliarden RMB in der ersten Jahreshälfte.
Auch das beschleunigte Verhökern von Immobilien zu Niedrigpreisen hat Evergrande nicht geholfen, die Schuldenlöcher zu stopfen. Keiner kann sagen, wo die Reise hin geht. Für uns bedeutet das nur, dass wir jetzt so schnell wie möglich handeln müssen, wenn wir noch etwas von unserem Geld wiedersehen wollen, bevor das Kartenhaus in sich zusammenfällt.
Das Gericht arbeitet schnell und setzt unsere Anhörung bereits auf den 10. September an. Da ich wieder zurück an die Uni muss, erscheint Vater allein im Gerichtssaal, während ich den Livestream übers Internet verfolge. Vor der Verhandlung ruft er mich an und fragt mit zitternder Stimme: „Was, wenn ich das Falsche sage? Und wenn wir nun verlieren?“ Ich weiß nicht, wie ich ihm Mut zusprechen sollen. Er solle einfach auf den Anwalt vertrauen, antworte ich ihm.
Das Verfahren ist weniger kompliziert als erwartet. Unser Anwalt fordert die Auflösung des Kaufvertrags und die Rückgabe der Kaution. Da wir den Kaufvertrag nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von 30 Tage erhalten hätten, stelle dies einen erheblichen Vertragsbruch dar und habe zum Verlust unserer Finanzierungszusage durch die Bank geführt.
[…]
Eine Woche später erreicht uns die Entscheidung des Gerichts. Der Vertrag sei nichtig und unsere Anzahlung binnen zehn Tagen zurückzuzahlen.
Als auch bis Mitte Oktober kein Einspruch der Gegenpartei eingeht, sehe ich das Geld bereits auf dem Weg zu uns, doch das bleibt ein frommer Wunsch. Denn in der Zwischenzeit hat der Vollstrecker die Konten unseres Bauunternehmers in Bengbu mit Einlagen in Höhe von 670 Millionen RMB eingefroren. Jetzt verfüge das Unternehmen nur noch über 10.000 RMB liquides Kapital – zu wenig, um unsere Anzahlung zu erstatten.
Seitdem häufen sich die schlechten Nachrichten in den Medien. Der Aktienkurs von Evergrande ist komplett zusammengebrochen, es wurde sogar der Handel der beiden Evergrande-Aktien an der Börse in Hong Kong ausgesetzt. Nachdem das Unternehmen verlautbart hat, dass es den ausstehenden Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 260 Millionen US-Dollar nicht nachkommen kann, hat nun sogar die Provinzregierung Guangdongs eine Arbeitsgruppe zu Evergrande entsendet, die das Krisenmanagement des Konzerns überwachen soll … alles deutet darauf hin, dass es mit Evergrande immer mehr bergab geht.
Die immer neuen Hiobsbotschaften lassen mich innerlich abstumpfen. Früher wäre ich überzeugt gewesen, dass ein Konzern wie Evergrande doch irgendwie in der Lage sein müsste, die 34.000 RMB Anzahlung aufzubringen, die uns das Gericht zugesprochen hat. Doch die vielen schlechten Nachrichten verfestigen in mir das Bild eines Unternehmens, das vollkommen ausgehöhlt ist. Mit der Zeit erscheint es mir fast schon normal, dass Evergrande uns die Anzahlung nicht erstattet.
Ganz anders mein Vater. In dieser Wohnung steckten seine Lebensersparnisse, das Geld, dass er sich Monat für Monat harter Arbeit vom Mund abgespart hat. Er war kurz davor gewesen, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, doch kurz vor dem Ziel haben sich alle seine Erwartungen zerschlagen.
Seit Vater realisiert hat, dass er sein Geld wohl nicht zurückbekommen wird, ist er noch deprimierter.
Im November 2021 hört Vater über einen Kollegen von einem auf Vollstreckungen spezialisierten Anwaltsteam. Die Kanzlei könne uns dabei, unser Geld einzufordern. Wenn die Anwälte erfolglos bleiben fielen keine Kosten an, ansonsten seien zehn Prozent der Vollstreckungssumme als Provision zu zahlen.
Vater will es versuchen, doch ich lehne ab. Ich bezweifle nicht, dass die Kanzlei nicht fähig ist, doch mittlerweile laufen durch lokale Gerichte so viele Verfahren gegen Evergrande, dass es unmöglich noch versteckte Vermögenswerte im Unternehmen geben kann.
Daraufhin verlangt Vater, dass ich alle zwei Wochen beim Gericht anrufen und nach unserem Fall fragen soll. Die Antwort ist jedes Mal die gleiche: „Wir haben noch keine vollstreckbaren Vermögenswerte gefunden, bitte gedulden Sie sich noch.“
Doch dann, am 11. Februar 2022, als wir uns beide schon innerlich auf den Verlust eingestellt haben, teilt uns das Gericht plötzlich mit, dass wir uns das Geld beim Gericht abholen können.
Auf dem Weg zum Gericht kommen wir an unserer ehemaligen Apartmentanlage vorbei. Es sieht so aus, als ob dort Arbeiten im Gange seien. Als Vater einen der Bauarbeiter danach fragt, bekommt er zu hören: „Heute arbeiten wir, morgen steht dann alles wieder still. Es waren schon einige hier und haben sich beschwert.“ Er zeigt auf die bereits von Gras überwachsene Baustelle und seufzt: „Schaut euch das an, es hätte schon vor zwei Jahren fertig sein sollen. Wenn das Immobilienunternehmen sich aus dem Staub macht und die Regierung keinen neuen Projektträger findet, was soll dann aus den Käufern werden?“
Nachdem Vater das Geld vom Gericht erhalten hat, spricht er mit einem Kollegen, der ebenfalls von Evergrande eine Wohnung gekauft hat. Vater erzählt mir, der Kollege sei das Risiko eingegangen und habe eine neue Hypothek für die Wohnung aufgenommen. Im Oktober letzten Jahres sei der Fertigstellungstermin gewesen, aber bislang sei von der Wohnung noch nichts zu sehen.
Und während die Wohnung auf sich warten lässt, haben die Ratenzahlungen pünktlich begonnen.
“Jetzt ist es für alles zu spät“, so der Kollege zu meinem Vater. Jeden Monat zahlt er 4.000 RMB an die Bank. Ihm bleibt nur zu hoffen, dass die Wohnung irgendwann fertig wird und seine Lebensanstrengungen nicht umsonst waren.
[1] 张威, 恒大暴雷,一位买房者的自救, veröffentlicht online am 08.04.2022 auf dem Online-Portal Truman’s Story (真实故事计划) unter https://mp.weixin.qq.com/s/2vM843l-jf6hLHLw5ea3qw
Comments