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  • Michaela Boehme

Bevölkerungspolitik: „Wer kann sich schon drei Kinder leisten?“

Aktualisiert: 21. Juni 2021


 

Podcast Beixiaohe FM, "Wer könnte sich vorstellen, drei Kinder zu bekommen?" [1]

Aus dem Chinesischen übertragen von Michaela Böhme

 

Chinas Gesellschaft wird immer älter. Nur 10 Millionen Kinder wurden 2020 geboren – so wenige wie niemals zuvor. Gleichzeitig steigt die Zahl der Chinesinnen und Chinesen, die aus dem Arbeitsleben ausscheiden und in Rente gehen.


Um die Überalterung der Gesellschaft zu stoppen, hat die chinesische Regierung nun die Drei-Kind-Politik ausgerufen. Nachdem bereits 2015 die rigide Ein-Kind-Politik zugunsten von zwei Kindern gelockert worden war, sind chinesische Paare nun dazu aufgerufen, nach Möglichkeit sogar drei Kinder zu bekommen und damit der sich anbahnenden demografischen Krise entgegenzuwirken.


Doch wer kann und will sich im heutigen China eigentlich drei Kinder leisten? Wie reagieren die Menschen auf den Richtungswechsel in der Bevölkerungspolitik des Landes? Im beliebten Podcast Beixiaohe FM diskutieren gewöhnliche Menschen aus der chinesischen Mittelschicht mit den beiden Podcast-Hosts Wang Shaohua und Dahesun über Chinas neue Drei-Kind-Politik und was dies für ihre eigene Familienplanung bedeutet.



Zu teuer, zu betreuungsintensiv und mit den beruflichen Anforderungen nicht vereinbar


Da ist zum Beispiel Hege, geboren in den 1970er Jahren, Journalist und Vater eines Sohns. Eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage sei ihm und seiner Frau sehr wichtig gewesen, erzählt er im Podcast. Er sei bereits acht Jahre verheiratet gewesen, bevor sein Sohn geboren wurde.


Obwohl Hege und seine Frau gut verdienen, eine Eigentumswohnung in Peking besitzen und die notwendigen finanziellen Mittel angespart haben, um ihrem Sohn eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, kommt für das Paar weder ein zweites noch ein drittes Kind in Frage. Grund hierfür sind vor allem gesundheitliche Probleme bei den eigenen Eltern und Schwiegereltern, die damit als wichtigste Stütze bei der Kinderbetreuung entfallen. Denn berufstätige Paare in China sind oftmals auf die Unterstützung ihrer verrenteten Eltern angewiesen, die die Kinder am Nachmittag betreuen, während beide Eltern in Vollzeit einer Beschäftigung nachgehen.


Auch Feng Lihong, promovierte Ingenieurin bei einem großen Konzern und Mutter einer Tochter, bemängelt die fehlende staatliche Unterstützung für junge Familien. Sie selbst habe nur drei Monate Mutterschaftsurlaub gehabt, bevor sie wieder Vollzeit in ihren Beruf eingestiegen sei. Dass sie trotz Dienstreisen und langen Arbeitszeiten überhaupt ihre Tochter aufziehen konnte, verdanke sie ihrer Mutter, die in diesen Zeiten die Betreuung des Kindes übernommen habe.


Trotzdem habe sie sich ein zweites Kind gewünscht, doch unter der rigiden Ein-Kind-Politik der 2000er Jahre sei dies keine Option gewesen. „Hätte man schon damals ein zweites Kind erlaubt und einige unterstützende Maßnahmen eingeführt, wie zum Beispiel Mutterschaftsurlaub, Stillzeit oder Kündigungsschutz für Schwangere, hätten sich viele Paare für ein zweites Kind entschieden“, glaubt Feng Lihong.


In der Tat stehen moderne, gut ausgebildete Frauen wie Feng Lihong hinsichtlich der Kinderfrage besonders unter Druck. Viele Schwangere und Mütter sehen sich einer aktiven Diskriminierung am Arbeitsplatz ausgesetzt, gegen die sich die Wenigsten erfolgreich zur Wehr setzen können.


Gleichzeitig sorgt ein patriarchalisches und von traditionellen Werten geprägtes Frauenbild dafür, dass das Kinder-Bekommen als gesellschaftliche Pflicht speziell der Frauen aufgefasst wird. So weist denn auch Wang Shaohua, Podcast-Host und Vater zweier Kinder, darauf hin, dass Frauen bei Fragen der Familienplanung einen höheren Preis zahlen als Männer. Die Sorgen und Forderungen von Frauen müssten hier in Gesellschaft und Politik mehr Gehör finden, so der Journalist.



Staatliche Kontrolle, Zwang und Anreize


Eine Politik, die Eltern und Familien besser unterstützt, wünschen sich alle Gesprächsteilnehmer, einen interventionistischen Staat, der in die Schlafzimmer hineinregiert, hingegen nicht. „Die Familienplanung ist eine persönliche Angelegenheit, über die sich jedes Paar selbst einig werden muss. Der Staat kann politische Anreize schaffen, um die Geburtenrate zu erhöhen, aber das Kinderkriegen darf nicht zum Zwang werden“, so Wang Shaohua.


Tatsächlich gehört eine staatlich gelenkte Familienplanung bereits seit jeher zum Herrschaftsinstrumentarium der Kommunistischen Partei Chinas. Wurde noch unter Mao Zedong das Bevölkerungswachstum gefördert, veranlasste das Schreckensszenario einer unkontrollierten Bevölkerungsexplosion die chinesische Führung 1980 dazu, landesweit die Ein-Kind-Politik durchzusetzen [2].


Zu der Zeit war die chinesische Regierung nicht allein mit ihrer Angst vor einer explodierenden Bevölkerung. So erzählt zum Beispiel Wang Shaohua, dass er als junger Mann gegen das Kinderkriegen gewesen sei: „Chinas riesengroße Bevölkerung hat mir immer Angst gemacht. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Dort gab es einige extrem kinderreiche Familien. Die Armut, in der diese Familien gelebt haben, war wirklich grausam anzusehen.“


Dennoch halten er und die anderen Podcast-Teilnehmer die Ein-Kind-Politik für ein Planungsversagen des Staates. Viel zu lange habe man die rigide Familienpolitik aufrechterhalten und damit die Chance verpasst, rechtzeitig gegen die Überalterung der Gesellschaft anzugehen, sind sich die Gäste der Gesprächsrunde einig. Zwar begänne die Regierung jetzt gegenzusteuern, es fehlten aber nach wie vor finanzielle Anreize und unterstützende Maßnahmen seitens der Politik.


Empört ist man in der Runde hingegen über Stimmen aus Wirtschaft und Politik, die nach einer zwangsweisen Umsetzung der Drei-Kind-Politik rufen. So hatte zum Beispiel kurze Zeit vorher der Chef des chinesischen Immobilienkonzerns Zhongyuan Group mit dem Vorschlag provoziert, dass nur Paare mit mindestens zwei Kindern Zugang zu Verhütungsmitteln haben sollten.


Dazu meint Hege: „Familienpolitik kann vielleicht mit gewissen Methoden Abtreibungen und Schwangerschaftsabbrüche erzwingen, aber sie kann die Menschen nicht dazu zwingen, mehr Kinder zu zeugen.“ Statt rhetorischem Druck bräuchte es soziale Absicherungsprogramme und Anreize, damit junge Menschen wieder mehr Kinder bekommen wollen, so der Journalist.


Die Drei-Kind-Politik wird wenig ändern


Generell ist man sich unter den Gesprächsteilnehmern einig, dass die Drei-Kind-Politik wenig ändern wird, solange die chinesische Politik nicht die strukturellen Probleme angeht, mit denen viele junge Familien zu kämpfen haben. Exorbitante Kosten für Wohnraum und Bildung in den Städten sowie eine Arbeitskultur, die wenig Rücksicht auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nimmt, seien das eigentliche Problem. Das würde auch daran deutlich, dass die bereits 2015 verkündete Lockerung hin zu einer Zwei-Kind-Politik zu keinem Anstieg der Geburtenrate geführt habe, so Podcast-Host Dahesun.


Schlussendlich werden nur zwei Bevölkerungsgruppen von der Drei-Kind-Politik profitieren, glaubt Dahesun: die Oberschicht, für die ein drittes Kind keine nennenswerte finanzielle Belastung darstelle, und die Landbevölkerung in abgelegenen, strukturschwachen Gebieten, die noch der traditionellen Vorstellung anhänge, dass Kinder vor allem als Arbeitskräfte wertvoll seien. In einer Gesellschaft, in der man sich nicht scheut, der Landbevölkerung einen Mangel an „Qualität“ (suzhi) – verstanden als Bildung und Kultur – zuzuschreiben, ist klar, dass ein Bevölkerungsanstieg marginalisierter ländlicher Gruppen wohl nicht im Sinne der Regierenden wäre.


 

[1] Podcast 北小河FM, 谁会考虑生三娃?, veröffentlicht online am 02.06.2021 unter https://www.allnow.com/post/60b64b9b57145a7e2c2ac576?at=audio


[2] Während die Ein-Kind-Politik in den Städten rigide umgesetzt wurde, gab es Ausnahmen für ethnische Minderheiten und Familien auf dem Land, deren erstes Kind ein Mädchen war.

 

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