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  • Michaela Boehme

Der Kampf um die beste Schule: Auszug aus dem Buch "Shang An" von Amber Jiang

Aktualisiert: 29. Juni 2021



 

Amber Jiang, "Früher hatte ich eine gelassene Einstellung zur Erziehung und wollte mein Kind einfach nur glücklich aufwachsen lassen" [1]

Übersetzt von Michaela Böhme

 

Anmerkungen zum Text


Täglicher Drill und Büffeln bis zum Umfallen, Überflieger-Kinder, die ihren internationalen Altersgenossen in Mathe und Naturwissenschaften weit voraus sind, „Tiger Moms“ (und „Dads“), die ehrgeizig an der schulischen und universitären Laufbahn ihrer Sprösslinge schrauben … Chinas Bildungssystem oder vielmehr das, was wir davon wahr nehmen, löst hier zu Lande bei vielen Eltern gemischte Gefühle aus. Auf der einen Seite besteht die Angst, im harten internationalen Wettbewerb gegen die gedrillten Chinesen vielleicht in Zukunft nicht bestehen zu können. Auf der anderen Seite besteht die Überzeugung, dass das chinesische Bildungssystem wenig zum selbstbestimmten und kreativen Denken junger Menschen beizutragen vermag.


Wo auch immer man sich in diesem Meinungsspektrum verortet, fest steht, dass Bildung in China einen enormen Stellenwert hat. Ein guter Abschluss an einer angesehenen Universität im In- oder Ausland gilt als Schlüssel zum beruflichen Erfolg, einer angesehenen sozialen Stellung und verbessert sogar die Chancen auf dem Heiratsmarkt. Doch der Weg zum Top-Universitätsabschluss ist steinig und fängt bereits im Vorschulalter mit dem Kampf um den richtigen Kindergartenplatz an.


Chinesische Mittelschichts-Eltern wenden schier unvorstellbare Mengen an Zeit, Geld und Energie auf, um ihre Sprösslinge im harten Wettbewerb um die besten Schulen und Universitäten nach vorne zu bringen. Für Nachhilfeunterricht, die Förderung musischer und sportlicher Begabungen, sowie die Schulgelder teurer Privatschulen geben Mittelschichts-Eltern laut einem 2018 erschienen „Weißbuch der chinesischen Mittelschicht“ pro Jahr im Schnitt 11,500 Euro aus. Noch mehr steigen die Kosten, wenn Eltern eine teure Zweitwohnung in Großstädten wie Peking oder Shanghai erwerben, um so in den Einzugsbereich ihrer Wunschschule zu fallen und damit die Chancen auf einen Platz an dieser Schule zu erhöhen.


Ein anderer Trend, der sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat, ist der Verzicht eines Elternteils, meistens der Mutter, auf die Berufsausübung, um das eigene Kind besser beim Lernen unterstützen zu können. So geben immer mehr hochgebildete Mütter der chinesischen Mittelschicht ihre Jobs in gut bezahlten Positionen auf, um die Lernerfolge ihrer Sprösslinge zu optimieren und diese bei der Vorbereitung auf wichtige Prüfungen wie den gefürchteten Gaokao – die Eingangsprüfung der Universitäten – gezielt zu unterstützen.


Der Ehrgeiz der Eltern bei der schulischen Förderung des Nachwuchses wird auch immer wieder im chinesischen Film und Fernsehen thematisiert. So zeigt zum Beispiel ein Ausschnitt aus der beliebten Serie „Nothing but Thirty“ (sanshi eryi) ein wohlhabendes Ehepaar aus Shanghai beim Interview mit einem Elite-Kindergarten. Fremdsprachenkenntnisse, Rechenkünste und eine wohl entwickelte kindliche Persönlichkeit des vierjährigen Kleinen sind neben einem gut gefüllten Portemonnaie der Eltern Mindestanforderungen, um dort einen Kindergartenplatz ergattern zu können.



Doch was hierbei leicht übersehen wird: chinesische Eltern sind oft selbst in der Eigendynamik immer höherer Anforderungen und sich hochschaukelnder Ansprüche gefangen. In ihrem Bestseller „Shang An“ – ein Begriff, der sich auf die Zulassung zu einer Elite-Schule bezieht – beschreibt Pekinger Autorin und Mutter Amber Jiang die äußeren Zwänge eines auf Wettbewerb und Exzellenz ausgerichteten Bildungssystems, in denen Eltern, Lehrer und Schüler gefangen sind.


"Shang An" von Amber Jiang
Amber Jiangs Bestseller "Shang An"

In „Shang An“ erzählt die 44-jährige Pekingerin aus dem Stadtbezirk Haidian von ihren persönlichen Erfahrungen im Ringen um einen Platz an einer der Top-Mittelschulen Pekings für ihren Sohn Huasheng. Ihre Erfahrungen hat sie nicht nur in einem Buch verarbeitet, sondern ihre Artikel finden auch in den sozialen Medien Anklang bei einer Millionenschar an Lesern.


Amber Jiang selbst ist Absolventin der prestigeträchtigen Universität Peking und hat in einem internationalen Großkonzern gearbeitet. Sie sei zunächst keine besonders ehrgeizige Mutter gewesen, sondern eine Vertreterin eines ganzheitlichen Bildungskonzepts (suzhi jiaoyu). Das Glück ihres Sohnes sei ihr am wichtigsten gewesen, so schreibt sie in „Shang An“.


Dies ändert sich mit dem Wechsel ihres Sohnes von der Grund- auf die Mittelschule. Vor dem zunehmend wettbewerbsorientierten Klima in der Grundschule können sich weder Mutter noch Sohn verschließen. Schließlich kündigt auch Amber Jiang ihren Job und widmet sich ausschließlich der Förderung ihres Sohns, um diesem dabei zu helfen, einen Platz an einer Elite-Mittelschule in Peking zu ergattern.


„Shang An“ wirft einen von Ironie aber auch von Fatalismus geprägten Blick auf die systemischen Zwänge, denen Eltern und Kinder im chinesischen Bildungssystem unterworfen sind. Das Buch macht deutlich: der Leistungsdruck auf Schüler und Eltern ist ein Produkt sozialer Beziehungen und zwischenmenschlicher Dynamiken – sowohl zwischen Eltern als auch zwischen Schülern untereinander – ein Druck, der durch die sozialen Medien noch zunehmend befeuert wird. Sich ihm zu entziehen ist auch für Skeptiker fast unmöglich.


 

"Erfahrungen einer Mutter aus Haidian: Früher hatte ich eine gelassene Einstellung zur Erziehung und wollte mein Kind einfach nur glücklich aufwachsen lassen"

von Amber Jiang



Im Pekinger Stadtbezirk Haidian liegt der Umsteigebahnhof Huangzhuang. Hier trifft die längste U-Bahn-Linie der Welt, Pekings U10, auf Pekings überfüllteste U-Bahn-Linie, die U4.


Am U-Bahnhof Huangzhuang beginnt die abendliche Rushhour für gewöhnlich immer etwas früher. Es ist vier Uhr nachmittags, und die Karohemd und Rucksack tragenden Software-Programmierer in Zhongguancun [Pekinger Hightech- und Start-Up-Viertel] haben noch fünf Stunden bis zum Feierabend vor sich. Würde man um den U-Bahnhof Huangzhuang einen Kreis mit einem Radius von 3 Kilometern ziehen, würde man sehen, dass sich viele Menschen seit ihrem 18. Lebensjahr hier in der Gegend aufhalten. Das hat damit zu tun, dass diese Menschen Absolventen der hier konzentrierten Bildungseinrichtungen sind – zum Beispiel der Technischen Universität Peking, der Universität für Luft- und Raumfahrt, der Renmin- oder Jiaotong-Universität … und natürlich der renommierten Tsinghua-Universität sowie der Universität Peking (Beida).


Ursache für den früh einsetzenden Abendverkehr sind Gruppen von Mittelschülern in rot-weiß, blau-weiß oder grün-weiß gemusterten Schuluniformen. Sie ziehen schwere Trolleys mit mindestens 10 Pfund Gewicht, die Hälfte der Jungen trägt Golftaschen, die Hälfte der Mädchen Musikinstrumente oder Zeichenmappen über der Schulter, in den Händen halten sie Becher mit Bubble-Tea. In Zweier- und Dreiergrüppchen kommen sie plaudernd aus den Schultoren: „Der Geometrietest heute war total schwer, es gab sogar zwei Fragen, bei denen man den Winkelmesser verwenden musste.“ „Geht nicht einer aus der Klasse XY ins Ausland?“ „Die mit den zwei Monaten TOEFL-Vorbereitungskurs haben beim Hörverstehen viel besser abgeschnitten als ich.“ „Sieht so aus, als ob sich die soundso mit der soundso zerstritten hat, aber mit der der soundso aus der Nachbarklasse ist sie jetzt ganz dicke.“ „Ich hab jetzt auch mit diesem Online-Game angefangen, dass du immer spielst. Gestern hab‘ ich sogar ‘nen versteckten Skill gefunden.“ …


Unter den vielen Schuluniformen sticht eine rot-weiße besonders heraus. Auf Brust und Rücken prangen vier große Schriftzeichen: „Ren Da Fu Zhong“ – Mittelschule der Renmin-Universität. Auch dieses Jahr haben nach der Gaokao-Prüfung wieder mehr als 100 ihrer Absolventen einen Platz an der Tsinghua-Universität und der Universität Peking ergattert. Das sind mehr als die Gesamtheit aller zugelassenen Erstsemester aus einer Provinz wie Yunnan, Hainan oder Qinghai.


Eltern aus anderen Städten mögen sich über die extrem ungleich verteilten Ressourcen des chinesischen Bildungssystems beschweren, doch Pekinger Eltern geht es nicht anders. Auf einer Informationsveranstaltung der Universität Peking fragt eine Mutter, deren Kind auf eine sogenannte Schwerpunkt-Mittelschule im Bezirk Chaoyang geht, den Veranstalter: „Mein Kind ist unter den ersten zehn Besten des ganzen Jahrgangs. Meinen Sie, dass es eine Chance auf einen Platz an der Beida gibt?“ Der Veranstalter schüttelt den Kopf und antwortet: „Ehrlich gesagt, ich würde mir da keine großen Hoffnungen machen.“ Daraufhin fragt eine andere Mutter: „Oh, meine Tochter besucht die Mittelschule der Renmin-Universität. Sie ist so unter den ersten 150 Besten ihres Jahrgangs? Wie sieht’s aus mit einem Platz an Ihrer Uni?“ Die Augen des Veranstalters leuchten auf: „Unter den ersten 150? Nicht schlecht, lassen Sie mich doch mal rasch eine Blick auf die Unterlagen werfen.“ Dies ist kein Witz, ich weiß es aus erster Hand, denn bei der zweiten Mutter handelte es sich um meine Tante.


Angesichts des Ehrgeizes der Mütter und Väter aus Haidian, bleibt den Chaoyang-Eltern nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen und das Feld den anderen zu überlassen. Mental gestärkt und mit neu überdachten Zielen, tun diese Eltern dann – wie übrigens eine ganze Reihe anderer Eltern in Peking und Shanghai auch – das einzig Rationale was ihnen bleibt: sie umgehen Tsinghua und Beida sowie die Gaokao-Prüfung komplett, indem sie ihre Kinder zum Studieren gleich ins Ausland schicken. Natürlich nur auf die besten Universitäten – die Top 50 in den USA, die G5 in Großbritannien oder auf Elite-Hochschulen in Australien und Kanada. Immerhin ist es leichter, einen Platz an einer Ivy League-Universität in den USA zu bekommen als an der Tsinghua-Universität oder der Universität Peking. Zum Vergleich: die Mittelschule der Renmin-Universität hat eine niedrigere Zulassungsquote als Harvard, Yale oder Princeton.


Was diese Eltern dabei übersehen: Auch beim Ansturm auf die Studienplätze im Ausland haben in den letzten Jahren die Schüler der chinesischen Elite-Mittelschulen die Nase vorn. 2019 erhielten 60 Prozent aller Bewerber der Renmin-Mittelschule eine Zulassung für eine der Top 30 amerikanischen Universitäten. In Haidian setzt man nicht nur auf Tsinghua oder Beida.



Die sechs besten Mittelschulen in Haidian


Zu den besten Grundschulen in Haidian gehören Zhongguancun Grundschule Nr. 3, Nr. 1 und Nr. 2. Für Eltern, die es sich leisten können, mehr als 100,000 Yuan pro Quadratmeter Wohnfläche auszugeben, sind Wohnungen auf dem Campus dieser Grundschulen erhältlich. Das ist aber noch keine Garantie dafür, dass ihre Kinder dann später auch auf eine der Top-Mittelschulen in Haidian kommen.


Zu den Elite-Mittelschulen in Haidian – von den Menschen hier auch die „Sechs kleinen Starken“ („liu xiao qiang“) genannt – gehören neben der eingangs erwähnten Mittelschule der Renmin-Universität auch eine Reihe weiterer, den Hochschulen angegliederte Mittelschulen, so zum Beispiel die Beida- und Tsinghua-Mittelschulen, Mittelschule Nr. 101 und Nr. 11 sowie die Mittelschule der Pädagogischen Universität Peking. Gemeinsam stellen diese Schulen 90 Prozent der späteren Erstsemester an Pekings Top-Universitäten wie Tsinghua oder Beida. Wie die Statistik zeigt, haben 50 Prozent aller in Tsinghua und Beida zugelassenen Studenten eine Schule in Haidian besucht und 90 Prozent davon wiederum eine der sechs Elite-Mittelschulen.


Eine beliebte Methode, um sich später einen Oberstufenplatz an einer dieser Schulen zu sichern, besteht darin, den Wechsel bereits direkt von der Grundschule aus vorzunehmen [anstelle beim Wechsel von der unteren Mittelstufe zur Oberstufe]. Doch mit Ausnahme der Mittelschule Nr. 11 gibt es bei diesen Schulen keine Einzugsbereiche. [Das heißt, anders als sonst üblich, garantiert ein Wohnort in der Nähe dieser Schulen nicht, dass man dort automatisch als Schüler aufgenommen wird]. Jede Schule vergibt im Allgemeinen pro Jahr nur 40 – 80 neue Plätze, und dies für den gesamten Bezirk Haidian.


Für die ca. 20,000 Schüler in Haidian, die die Mittelschule besuchen, ist damit die Wahrscheinlichkeit, einen Platz an einer der Elite-Mittelschulen Haidians zu bekommen leicht höher als die, fünf Millionen Yuan im Lotto zu gewinnen und etwas niedriger, als eine Pekinger Autozulassung im jährlichen Losverfahren zu ergattern. [Im staugeplagten Peking entscheidet das Los darüber, wer ein neues Auto anmelden kann].


Haidian ist damit so etwas wie die tibetische Hochebene der chinesischen Bildung. Wie sich auf der tibetischen Hochebene das Himalayagebirge und das wüstenähnliche Qaidam-Becken gegenüberstehen, gibt es in der Mittelschulenlandschaft Haidians die liu xiao qiang und die gewöhnlichen Mitteschulen. Manche Leute sagen, die liu xiao qiang seine reine Notenschmieden, eine verbesserte Version sozusagen von Kaderschulen wie Hengshui [halbmilitärische Oberschule in der Provinz Hebei, die bekannt ist für ihre Strenge].


Wer sich in den illustren Kreis der Elite-Mittelschulen Haidians begeben will, hat nicht nur ein glattes 1er oder 1+ Zeugnis vorzuweisen, sondern muss auch mit besonderen persönlichen Begabungen aufwarten, wie zum Beispiel einem ersten Preis im Internationalen Roboterwettbewerb, einer Goldmedaille der Internationalen Erfindermesse in Genf, einer Auszeichnung der Asiatischen Physik-Olympiade, dem nationalen Sportschulpokal im Fußball, oder natürlich dem einen oder anderen Preis bei einem Musik- oder Kunstwettbewerb.


An den liu xiao qiang geht es nicht nur um exzellente Prüfungsleistungen, auch auf die Formung des Charakters wird Wert gelegt: Professoren der Tsinghua- und Peking-Universität werden zu Vorlesungen eingeladen, Wissenschaftler der chinesischen Akademie der Wissenschaften leiten die Schüler bei Laborprojekten an, Projektfahrten nach Guanxi und in das Naturschutzgebiet der Qinling-Berge stehen auf dem Plan, beim Dirigenten des Schüler-Sinfonieorchesters handelt es sich um den Leiter der Zentralen Musikhochschule Pekings, und Sportstars wie Yao Ming oder Stephon Marbury coachen das Basketballteam der Schule …



„Früher hatte ich eine gelassene Einstellung zur Erziehung und wollte mein Kind einfach nur glücklich aufwachsen lassen.“


Um mich herum gibt es viele besorgte Eltern, einschließlich meiner Schwester in Hangzhou – der Mutter von Xiao Buding. Ich glaube, die Ursache für menschliche Sorgen liegt in der Kluft zwischen den eigenen Ansprüchen und den Grenzen des eigenen Handelns. Um sich weniger Sorgen zu machen, gibt es also zwei Möglichkeiten: Die eine besteht darin, die eigenen Ansprüche zu senken – dies ist Denkweise des Buddhismus. Die andere Möglichkeit ist, die eigenen Handlungsoptionen zu vergrößern – das ist die Einstellung der Ehrgeizigen.


Ich selbst habe keine starken Wünsche und Ziele, sondern glaube an das daoistische Prinzip, dass man den Dingen ihren Lauf lassen soll. Auf der anderen Seite bin ich glücklicherweise noch immer recht aktiv. Was mir in den Kopf kommt, setze ich sofort um. Meine Freunde und Verwandten meinen daher, dass ich ein recht sorgenfreier Mensch sei. An andere Menschen habe ich keine besonders hohen Ansprüche, auch nicht an meine eigene Familie. Ich habe mir nie besondere Ziele für meinen Sohn Huasheng gesetzt, wie zum Beispiel, dass er auf diese oder jene Mittelschule oder Universität gehen soll. Ich besitze auch keine Wohnung in Haidian, sondern habe Huasheng lediglich im Haushalt seines Großvaters gemeldet. Und dass Huasheng eine sogenannte Schwerpunkt-Grundschule besucht, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken.


Huashengs Grundschule ist nicht unter den besten in Haidian. Ihr Schwerpunkt liegt vor allem auf der umfassenden Bildung der Persönlichkeit (suzhi jiaoyu), eines Bildungsprinzips, das ich selber sehr begrüße. Hausaufgaben gibt es nur sehr wenige, nie mehr als eine Stunde.


In der Schule selbst werden die unterschiedlichsten AGs angeboten und jeden Tag nach dem Unterricht finden verschiedene Aktivitäten statt. Huasheng war im Fußball- und Legoclub, hat Modellflugzeuge gebaut und sich am Programm des Schulfernsehens beteiligt. Später dann ist er ins Basketballteam gewechselt und hat dort drei Mal die Woche trainiert, sodass wir schließlich sein außerschulisches Basketballtraining aufgegeben haben.


Auf dem Aufgabenplan für die Winter- und Sommerferien standen Aktivitäten wie ins Museum gehen, Bücher lesen, englische Filme anschauen oder spielerisches Erkunden von neuen Sachverhalten … alles Dinge, die einfach sind und Spaß machen. Außerhalb des Unterrichts habe ich Huasheng höchstens hin und wider einige zusätzliche Mathematik- oder Englischaufgaben gegeben. Den Rest der Zeit haben wir zusammen gelesen, Sport gemacht oder waren auf Reisen. Wir haben viel gespielt, aber keine speziellen Fertigkeiten trainiert. Wir haben viel gelesen, aber keine Lehrbücher.


Auch bei der halbjährlichen Bekanntgabe der Rankinglisten mit den Noten aller Schüler war nichts von einem harten Wettbewerb zu spüren. Die Lehrer haben sich ebenfalls immer sehr lieb um Huasheng gekümmert. Die Klassenlehrerin war die ganze Zeit über dieselbe, eine sehr fürsorgliche und engagierte Lehrerin. Sie mochte Huasheng sehr und lobte sein aufrichtiges Wesen, seinen sonnigen Charakter und sein gutes Allgemeinwissen.


Ich habe dieser Schule viel zu verdanken, denn auch jetzt noch sagt mir Huasheng, was er hier für eine glückliche Kindheit hatte. Bevor er in die vierte Klasse kam, hat Huasheng mit Ausnahme eines Englischkurses, bei dem vor allem das Spielerische im Vordergrund stand, keine weiteren Nachhilfekurse besucht. Ich habe ihn lediglich beim Zeichnen und Basketball angemeldet, da dies seinen Interessen entsprach.


Der sorglose Zustand Huashengs dauerte bis zum ersten Halbjahr der vierten Klasse an. Zu diesem Zeitpunkt veränderte sich die Atmosphäre, und selbst ich, die ich der Außenwelt nicht viel Aufmerksamkeit schenke, fühlte mich auf einmal zunehmend nervös. Die Mütter waren auf einmal alle fürchterlich beschäftigt, unterstützten ihre Kinder bei der Vorbereitung von Einstufungstests und der Teilnahme an Wettbewerben. Diejenigen, die sich sonst nie um Zusatzkurse geschert hatten, fingen auf einmal an, ihre Kinder für außerschulische Kurse anzumelden. Und diejenigen, die ihre Kinder früher zu Zusatzkursen geschleppt hatten, begannen nun, ihre Kinder in kleinen Lerngruppen oder sogar im Einzelunterricht für die Zulassung an der gewünschten Zielschule vorzubereiten.


Als einige besonders eifrige Mütter sehen, dass ich noch immer recht entspannt bin und nicht sonderlich viel Aktionismus an den Tag lege, fragen sie mich: „In welche Schule wirst du dein Kind schicken?“ Ich antwortet: „Ich schicke ihn einfach auf die weiterführende Mittelschule unserer Schule.“ Die Mütter entgegnen: „Die ist aber nicht gut.“ Ich sage: „Ich finde sie nicht schlecht. Ist sie nicht unter den besten 20 Mittelschulen in Haidian?“ Die Mütter sehen mich etwas mitleidig an und erinnern mich dann freundlich: „In unserer Schule können nur die Schüler aus den experimentellen Klassen in eine Schwerpunkt-Oberstufe wechseln. Die aus den normalen Klassen können das nicht.“ Ich frage sie neugierig, was denn ihre Ziele seien. Die Mütter antworten: „Natürlich die liu xiao qiang.“ Ich frage: „Was sind die liu xiao qiang?“ Die Mütter schauen mich an, als hätten sie einen Außerirdischen gesehen, aber dann klären sie mich eifrig auf, welche Schulen denn zu den liu xiao qiang zählen, über die tollen Leistungen der Schüler bei der Oberstufenprüfung, die guten Lehrer, den super Sportunterricht, die dort üblichen großen Veranstaltungen …


Trotz meines ruhigen Gemüts werde ich unvermittelt nervös. Wenn es doch so gute Schulen gibt, warum sollte man es nicht versuchen? Zumal, auch wenn Huashengs Noten nicht absolute Spitzenklasse sind, schlechter als die Kinder der Mütter vor mir scheint er mir auch nicht zu sein. Man sollte seine eigene buddhistische Gelassenheit nicht zu sehr loben. Manchmal ist man nur deshalb gelassen, weil man noch keiner echten Verlockung begegnet ist.


Ab wann fing ich an, ernsthaft besorgt zu sein? In unserer Familie geht es sehr demokratisch zu. Wichtige Dinge wie die Anmeldung zu Nachhilfekursen bespreche ich vorher immer mit Huasheng. Als ich das Thema zur Sprache bringe, stimmt Huasheng zu meinem Erstaunen sofort zu. Scherzend sage ich zu ihm: „Wie kommt’s, dass du nicht widersprichst?“ Er antwortet: „Alle meine Freunde besuchen private Nachhilfekurse, außer mir, das ist doch komisch. Und außerdem, muss ich nicht bald in die Mittelstufe wechseln?“


Ich bin ein wenig überrascht. Huasheng scheint auf einmal erwachsen geworden zu sein, ganz ohne, dass ich es bemerkt hätte. Wie beiläufig frage ich ihn: „Hast du schon mal was von den liu xiao qiang gehört?“ Er antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Natürlich hab ich davon gehört.“ Jetzt bin ich noch überraschter und frage ihn, wie er davon weiß. „Ayang hat mir davon erzählt. Er wird versuchen, einen Platz in der Fußballklasse der Renda-Mittelschule zu bekommen. Er sagt, die liu xiao qiang sind die sechs besten Mitteschulen in Haidian, und die Mittelschule der Renda-Universität ist die beste unter ihnen. Adi sagt auch, dass er auf die Mittelschule der Renda-Universität gehen will.“


Ich frage ihn: „Und du, wie denkst du darüber?“ – „Die Renda-Mittelschule ist eine so gute Schule, natürlich will ich da auch hin. Außerdem will ich gerne mit meinen Freunden in der Mittelschule zusammen bleiben … Aber ich bin im Fußball nicht so gut wie Chen Ayang, und meine Noten sind nicht so gut wie die von Xu Jiadi, vielleicht gibt es ja keine Hoffnung für mich … oder sollte ich doch einfach an unserer Schule in die Mittelstufe wechseln?“


Als ich das höre, spüre ich ein Gefühl der Beklemmung. Eltern können so abgeklärt sein, wie sie wollen, aber was ist, wenn es ihre Kinder nicht sind? Ihre Vergleiche untereinander sind sowohl direkt als auch grausam, ihr Selbstwertgefühl sowohl stolz als auch zerbrechlich. Was tun? Ich denke, ich sollte Huasheng ermutigen und sage zu ihm: „Wir strengen uns gemeinsam an, ok? Die liu xiao qiang sind unser Traumziel, die Mittelstufe an deiner jetzigen Schule ist unser Minimalziel.“



„Wenn es zu viel wird, geht er eben nicht zum Kindergarten.“


Mit Beginn der Vorbereitungen für Huashengs Wechsel an die Mittelschule sind wir beide auf einmal arg beschäftigt. In den Sommerferien kehren wir nach Hangzhou zurück. Jeden Tag schreiben wir Probeklausuren, mindestens zwei am Tag, eine in Mathe und eine in Chinesisch, oder eine in Mathe und die andere in Englisch. Danach ist der Vormittag rum. Am Nachmittag helfe ich Huasheng bei der Korrektur seiner Fehler. Danach gebe ich ihm zwei Aufgaben aus der Mathematik-Olympiade zum Lösen und übe mit ihm etwas Englisch sprechen. Damit ist der Tag komplett verplant.


Am Abend machen wir dann einfach gar nichts. Nach dem Abendessen gehen wir spazieren, lesen ein Buch oder schauen uns einen Film an. Mir erscheint unser Lernpensum so hinreichend voll. Manchmal lade ich meine Schwester auf ein Treffen ein, doch das ist gar nicht so leicht. Es liegt nicht daran, dass meine Schwester so beschäftigt ist, sondern ihr Sohn – Xiao Buding. Wenn Xiao Buding nicht gerade Klavierunterricht hat, dann muss er zum Basketball, so erzählt meine Schwester. Als wir sie ein Mal am Wochenende besuchen, sitzt Xiao Buding noch bei seinem Englischunterricht am Computer.


Xiao Buding ist erst fünf Jahre alt. Wie kommt es, dass er noch mehr um die Ohren hat als Huasheng? Eines Tages kann ich mich nicht mehr zurückhalten und frage meine Schwester: „Wie viele Extrakurse besucht Xiao Buding eigentlich? Ich hab den Eindruck, der hat jeden Tag Unterricht.“ Meine Schwester sagt: „Sechs Kurse pro Woche, aber insgesamt acht Stunden Unterricht, denn zum Klavierunterricht geht er jede Woche zwei Mal.“ Ich frage überrascht: „Was, wenn ihm das zu viel ist?“ Meine Schwester entgegnet gereizt: „Wenn das zu viel ist, dann geht er eben nicht zum Kindergarten.“ Ich frage erneut: „Macht der Unterricht Xiao Buding denn Spaß?“ Meine Schwester: „Xiao Buding hat mir gesagt, er mag die Kurse sehr gerne, und er übt auch sehr gerne Klavier.“


Einmal frage ich Xiao Buding leise: „Gehst du gerne zum Unterricht?“ Daraufhin Xiao Buding: „Ich mag nicht zum Unterricht gehen. Ich will zu Hause bleiben und mit meinen Spielzeugen spielen.“ Auch wenn Xiao Buding ein Überflieger-Kind ist, ist er doch, was das Lernen angeht, ein bisschen träge, so wie die allermeisten Kinder, aber schließlich ist er ja auch erst fünf. Ich bewundere seine kindliche Schläue. Er weiß genau, was Mama hören will und er weiß auch, dass es keine Gefahr ist, mir die Wahrheit zu sagen.


Verglichen mit Xiao Buding sah Huashengs außerschulischer Stundenplan, bevor er in die vierte Klasse kam, so öde wie eine Wüste aus. Damals gab es kein WeChat [chinesische WhatsApp-Variante], keine Micro-Blogs, und keine Chat-Gruppen. Wir hatten keine Ahnung, was die Kinder anderer Leute so taten, also brauchten wir uns nicht beunruhigen, nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“. Die Zeiten ändern sich. Heute frage ich mich, ob es in den Großstädten noch solche „Exemplare“ an Eltern wie mich gibt, die ihre Kinder nicht zu Extrakursen außerhalb des Schulunterrichts schicken.


[…]



„Ich dachte immer, mein Kind lernt viel. Ich hätte nicht gedacht, dass das noch zu wenig ist.“


Ich habe gehört, dass es in Shanghai noch schwieriger ist vom Kindergarten auf eine gute Grundschule zu wechseln, als in Hangzhou. Die Shanghaier Mütter sind wohl auch noch eifriger um die Bildungschancen ihrer Kinder bemüht als die Mütter in Hangzhou. Meine Schwester denkt, es kann doch nicht schaden, Xiao Budings Lernniveau etwas nach oben zu schrauben. Also tritt sie als verborgene Teilnehmerin einer Chat-Gruppe Shanghaier Eltern bei, die sich dort über den Wechsel ihrer Kinder vom Kindergarten in die Grundschule austauschen. Hier will sie sehen, welches Niveau von den besseren Grundschulen in Shanghai vorausgesetzt wird.


In der Chat-Gruppe sieht sie Prüfungsfragen wie diese hier: Xiao Hongzhan steht in der Mitte des Teams. Sieben Personen stehen vor ihm, sechs Personen stehen hinter ihm. Wie viele Personen hat das Team? Oder diese: In Shanghai beträgt die Mindesttemperatur -2 °C und die Höchsttemperatur 13 °C. Wie groß ist der Temperaturunterschied?


Meine Schwester sagt: „Die erste Frage geht in Ordnung. Wenn ich das aufmale, kann sich Xiao Buding das vorstellen. Aber die zweite Frage, wie kommen die dazu, negative Zahlen zu nehmen? Lernt man negative Zahlen etwa schon in der Grundschule? Ich schein wohl keine Ahnung zu haben.“ Ich sage zu ihr: „Laut Lehrplan kommen negative Zahlen erst in der Mittelstufe dran.“


Abgesehen von der speziellen Problematik negativer Zahlen, kommt meine Schwester bei ihren Nachforschungen zu folgendem Ergebnis: Für die guten privaten Grundschulen Shanghais gilt, dass die Kinder beim Wechsel vom Kindergarten das Lernniveau eines Drittklässlers vorweisen müssen. Anders gesagt: damit dein Kind in die ersten Klasse gehen kann, muss es bereits den Stoff der dritten Klasse beherrschen.


Meine Schwester ist ein wenig erschüttert: „Ich habe Xiao Buding so sehr darauf gedrillt, dass er den Stoff der ersten Klasse lernt. Warum fangen wir überhaupt in der ersten Klasse an, wenn Xiao Buding dafür das Niveau eines Drittklässlers braucht? Warum starten wir dann nicht gleich direkt in der vierten Klasse?“


Unter vier Augen erklärt eine Mutter aus Shanghai meiner Schwester: „Um ehrlich zu sein, jeder versteht doch das Prinzip. Wenn ein Kind in die Grundschule kommt und noch nichts gelernt hat, dieses und jenes noch nicht kann, aber die anderen Kinder beherrschen bereits den Lernstoff der dritten Klasse, wenn dann der Lehrer kommt und sieht, die können das ja schon alles, na dann können wir das ja schnell überspringen und weitermachen im Stoff … da ist das Kind, was noch nichts kann, ja der Depp. Später denkt der Lehrer dann, dieses Kind kommt einfach nicht mit im Unterricht. Und das Kind selber hat das Gefühl, dass alle anderen immer alles verstehen, es selber aber gar nichts versteht. Sowas trifft ein Kind doch hart im Selbstbewusstsein und isoliert es von den anderen Kindern. Daher ist es absolut notwendig, früh mit dem Lernen zu beginnen. Das Umfeld bestimmt, wie ein Kind lernt, da kann man nicht immer sein eigenes Ding machen wollen.“


Meine Schwester ist zutiefst schockiert. Sie hat doch immer so viel in Xiao Budings Bildung investiert. Jetzt sieht es so aus, dass Xiao Buding zwar Klavier spielen, Englisch sprechen und mit Lego komplexe Dinge bauen kann, aber weil er noch nicht den Stoff der dritten Klasse beherrscht, wird es schwer werden, eine gute Schule für ihn zu finden. Auch ich bin vollkommen aus der Fassung. Verglichen mit Huasheng in diesem Alter, finde ich, dass meine Schwester Xiao Buding schon jetzt viel zu viel lernen lässt. Wer hätte gedacht, dass das im Vergleich mit Gleichaltrigen noch immer zu wenig ist! Verglichen mit Huasheng, als der fünf Jahre alt war, ist Xiao Buding ein Überflieger, aber im Vergleich zu anderen Kindern ist er noch immer nur Mittelmaß.


[...]


 

[1] 安柏, "海淀妈妈闯关记:我以前也佛是,只想穿让孩子快乐成长", Auszug aus dem Buch "上岸", veröffentlicht online am 14. Dezember 2020 unter https://mp.weixin.qq.com/s/U9nu8RU7bZ7A724NsgQdpw


 

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